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matt studer

Wir schreiben das Jahr 2025 - Ausblick und Hoffnung: Skizzen zur Situation der Kirche in einer post-christlichen Gesellschaft


Eine Stadt, die auf einem Berg liegt, kann nicht verborgen bleiben.

(Matthäus 5,14)


... und die Pforten der Höllen sollen sie nicht überwinden.

(Matthäus 16,8b)



Zu Beginn eines neuen Jahres schaut man gerne nach vorne. Was mag das neue Jahr an neuen Überraschungen, Entdeckungen und Veränderungen mit sich bringen? Was vom 'Alten' wird bleiben, sich aber auch nicht verändern oder verbessern? In diesem Beitrag möchte ich über den geistlichen Grundwasserpegel unserer Gesellschaft heute im 2025 reflektieren - und der Situation der christlichen Kirche mittendrin (oder steht sie abseits?). Ich muss für einmal meine Gedanken, die von ganz verschiedenen Seiten dazu angeregt und beeinflusst wurden, sammeln und sortieren. Erwartet also keine systematische Reflexion, sondern eher ein skizzenartiges (aber hoffentlich stimmiges) Potpourri mit den verschiedensten Gewürznoten.


Jeder und jede hat eine Meinung über die Zeit und Welt, in der er oder sie lebt. Wir alle interpretieren die 'Zeichen der Zeit'. Meine persönliche Meinung ist, dass wir als Christen in einer Zeit leben, die mehr oder weniger post-christlich geprägt ist. Wir zehren nach wie vor von unserer christlichen Vergangenheit. Das Christentum hat unsere Gesellschaft nachhaltig geprägt und diese Prägung ist nach wie vor spürbar (Tom Holland hat mir hier wie kein anderer geholfen, dies gründlich zu begreifen). Und dennoch leben wir post-christlich: wir leben nicht mehr in einem christlichen Abendland, in dem die Kirche das Sagen hat und das biblische Evangelium oder die christliche Moral allgemein bekannt, geschweige denn akzeptiert würde. Das spezifisch Christliche am christlichen Glauben ist für viele Menschen unserer Zeit geradezu fremd und eigentümlich geworden. Wir leben in einem säkularen Zeitalter. Das heisst, dass wir Gott ausblenden, dass wir unser Leben unter der Sonne ohne Referenz auf Gott oder den christlichen Glauben gestalten (in dieser Hinsicht folge ich ganz Charles Taylor, den ich in diesem Beitrag besprochen habe). Anders gesagt, der christliche Glaube, den die Kirche verbreiten möchte, ist alles andere als plausibel für die Menschen da draussen, selbst wenn so manches 'Gute' vom christlichen Glauben gerne bewahrt wird. Ich denke hier vor allem an solch biblische Werte wie die Würde und Gleichheit eines jedes Menschen oder den Maximalwert der Nächstenliebe oder Barmherzigkeit. Tom Holland spricht in diesem Zusammenhang von 'borrowed capital', einem Fremdkapital, das man gerne vom Christentum ausleiht, weil man es doch noch gut und hilfreich findet. Dazu bedenke man, dass Nächstenliebe oder Barmherzigkeit nur auf dem Hintergrund der biblischen Story wirklich plausibel sind - die Story, die einen Gott porträtiert, der seine Menschen liebt und sich sogar für sie hingibt.


Was macht die Kirche (vor allem die Freikirche) in diesem Setting eigentlich so? Wenn man keine Abneigung gegen Zahlen hat, stellt man fest, dass das Wachstum der Kirche manchmal abnimmt, häufig stagniert und manchmals sogar etwas zunimmt. Wobei man im dritten Fall dieses Wachstum vor allem diesen drei Quellen zuschreiben darf [1]: Erstens, evangelikal vor-geprägte Christen aus der Landeskirche, die dort die Schnauze voll haben und den Club wechseln. Zweitens, Christen mit Migrationshintergrund, die einwandern und sich einer Freikirche anschliessen. Drittens, ein Transferwachstum, also Christen, die von einer Freikirche in eine andere wechseln. Der wirklich allerkleinste Teil stammt aus dem säkular-post-christlichen Kuchen. Bartholomä und Schweyer stellen dazu fest:

Gerade Menschen aus den wachsenden säkularisierten Gesellschaftsschichten, die gänzlich ohne christlich-kirchliche Prägung aufwachsen, werden von Freikirchen kaum erreicht. (Kirche mit Mission, S. 28)

Das Paradoxe daran ist, dass das Christentum auf einer globalen Skala gesehen, die am stärksten wachsende und weitverbreitetste Religion darstellt. Doch ist diese christliche Religion heute, im Jahre 2025, vorwiegend eine Religion des globalen Südens. Nur bei uns, im westlichen Norden, der ursprünglichen Heimat des Christentums [2], ist die Luft draussen - so scheint es zumindest.



Anzeichen eines neuen Aufbruchs?

Für Justin Brierley, den britische Podcaster, der einen jahrelangen Dialog mit Atheisten und Christen pflegte, scheint es erste Anzeichen dafür zu geben, dass Menschen sich wieder neu dem christlichen Glauben öffnen. Gerade unter den Hardcore-Atheisten gibt es ein paar bemerkenswerte Beispiele, das berühmteste darunter wohl das von Ayaan Hirsi Ali, einer der prominenteren Stimme der Neuen Atheisten, die sich nun als Christin bezeichnet. Wie immer man diese 'Wandlung' von Ayaan Hirsi Ali bewertet (hat sie sich nun bekehrt oder nicht?), es könnte schon sein, dass zumindest unter den Intellektuellen eine neue Offenheit für den christlichen Glauben am Aufkeimen ist, weniger eine a priori Abwehrhaltung denn eine Art Neugierde. [3] In diesem Sinne nennt Justin Brierley sein Buch auch The Surprising Rebirth of Belief in God: Why New Atheism Grew Old and Secular Thinkers Are Considering Christianity Again.


Eine weitere interessante Persönlichkeit ist der oben schon genannte Tom Holland, ein Historiker, der den Impact des christlichen Glaubens auf die westliche Gesellschaft im Buch Herrschaft: Die Entstehung des Westens nachdrücklich zum Ausdruck brachte. Im Prozess seiner Studien über eben diesen Einfluss des christlichen Glaubens wurde er selber 'offener' für den christlichen Glaube. Wie er selbst beschreibt, hat er den Sprung in den Glauben noch nicht gewagt, bezeichnet sich aber als suchend und offen (siehe dazu diesen faszinierenden Dialog zwischen Brierley und Holland).


Wir sollten hier auch noch das Peterson-Pänomen erwähnen. Jordan Peterson, von Haus aus Psychologe, schreibt Bücher über Gott, die dann selbst von christlichen Verlagen herausgegeben werden. Ich habe mich (noch) nicht wirklich intensiv mit Peterson befasst. Und auch wenn ich ihn aus der Distanz eher als Jünger von Carl Gustav Jung und dessen Lehre der Archetypen, denn als Jünger des Jesus der Bibel wahrnehme, ist es für mich doch einigermassen erstaunlich, dass ein öffentlicher Intellektueller so offen über Gott und die Bibel redet - und dabei noch offene Türen einrennt.


Das waren jetzt alles Beispiele aus der intellektuellen Etage. Wie steht es aber mit dem einfachen Fussvolk? Die Realität ist komplex. Ich bin versucht hier in gut schweizerischer Manier neutral bleiben. Wenn es einerseits viele Menschen gibt, die das Säkulare, das alles Transzendente, Göttliche oder Übernatürliche zudeckelt, satt haben und sich auf irgend eine Art und Weise für Spiritualität und manchmal sogar christliche Spiritualität öffnen [4] - so erleben wir auf der anderen Seite manchmal auch eine Abwehrhaltung gegen das Christliche, gerade im Bereich der Sexualmoral (ihr seid alles Hinterwäldler!). [5]


Wenn sich nun heute jemand aus der Bubble der Welt für den christlichen Glauben zu interessieren beginnt, dann nicht, weil seine Grossmutter ihm aus der Bibel vorgelesen hat (oder vielleicht doch?), sondern weil das Christliche irgendwie fremd und vielleicht gerade darum anziehend ist. Nicht weil der christliche Glaube bereits plausibel wäre. Nicht weil wir voraussetzen könnten, dass sich die biblische Story und das Evangelium bereits in den Köpfen der Menschen da draussen eingenistet hat. Im Gegenteil. Wer keine Ahnung mehr hat, was es mit Ostern oder Weihnachten auf sich hat, lebt in einer post-christlichen Zeit - und gerade das könnte doch auch neue Möglichkeiten bieten.



Chancen und einen Haufen Hoffnung für die Kirche von heute un morgen

Wenn wir uns darauf einigen, dass das christliche Abendland passé ist, die Menschen in unseren Städten und Dörfern nicht länger christlich sozialisiert sind und keinen blassen Schimmer von dem haben, was wir Christen eigentlich so denken und tun - wenn wir also in einer post-christlichen, säkularen Welt leben - was dann?


Glen Scrivener spricht in diesem Zusammenhang von low tide evangelism: Bei Ebbe zieht sich das Meer zurück und gibt den Boden mit allen Steinen, Muscheln und Algen frei. Bei Flut sind diese Boden-Details verborgen, da eben überflutet - bei Ebbe aber werden sie offenbar. Dieses Bild beschreibt unsere Situation: Bei Flut - also in einer durch und durch christlich geprägten Gesellschaft, wird alles Christliche als selbstverändlich genommen und häufig einfach passiv übernommen. In diesem Setting scheint es klar zu sein, dass jeder Mensch eine Gott-verliehen Würde besitzt und daher Gleichberechtigung erfahren soll, dass Mann und Frau beides Geschöpfe Gottes sind, die auf derselben Stufe stehen und dass es gut ist, sich für das Wohl seiner Mitmenschen, ja selbst für das Wohl der Fremden einzusetzen. Solche Werte und Haltungen werden selbst heute noch geglaubt und intuitiv gefühlt und übernommen, weil wir nach wie vor von unserer geschichtlichen Prägung zehren. Die Situation der Ebbe zeigt uns jedoch gleichzeitig auch wieder klarer, dass wir hier aus ganz spezifisch christlichen Ressourcen schöpfen. Glen Scrivener bringt dazu das Beispiel der Gründung Amerikas (was für ihn als Amerikaner naheliegend ist):

Denken wir zum Beispiel an den humanistischen Deismus von Thomas Jefferson oder Benjamin Franklin. Als sie die Unabhängigkeitserklärung verfassten, gründeten sie eine Nation auf der kraftvollen Idee der unveräußerlichen Menschenrechte – Rechte, die sie als „selbstverständlich“ betrachteten. Aber die Selbstverständlichkeit der Menschenrechte ist eine Überzeugung, die man nur vertreten kann, wenn sie durch christliche Annahmen gestützt wird.

Als der Strand noch überflutet war, konnte man nicht sehen, woher diese Werte kamen. Jetzt bei Ebbe aber sehen wir die Beschaffenheit des Bodens besser. Dazu meint Tom Holland:

Dass alle Menschen gleich geschaffen und mit einem unveräußerlichen Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück ausgestattet waren, war keine im entferntesten selbstverständliche Wahrheit ... Der wahrste und ultimative Nährboden der amerikanischen Republik – ganz gleich, was einige derjenigen, die ihre Gründungsdokumente verfasst hatten, auch gedacht haben mochten – war das Buch Genesis. (zitiert in Scriveners Artikel)

Der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche erkannte dies auf seine eigentümliche Art schon vor hundert Jahren:

Wenn man den christlichen Glauben aufgibt, zieht man sich damit das Recht zur christlichen Moral unter den Füssen weg ... Das Christentum ist ein System, eine zusammengedachte und ganze Ansicht der Dinge. Bricht man aus ihm einen Hauptbegriff, den Glauben an Gott, heraus, so zerbricht man damit auch das Ganze: man hat nichts Notwendiges mehr zwischen den Fingern. (aus Götzen-Dämmerung: oder wie man mit dem Hammer philosophiert)

Das impliziert für uns Christen doch, dass wir bei dieser Ebbe-Situation wieder anders über unser Christsein kommunizieren könnten. Wir brauchen uns nicht zu schämen, die Dinge beim christlichen Namen zu nennen. Wir dürfen durchaus mit Stolz sagen, dass das, was viele der Menschen heute noch intuitiv als richtig erkennen (ausser sie folgten der Spur von Nietzsche) etwas Christliches ist, das mit dem Glauben an Jesus Christus zu tun hat und nur auf dem Hintergrund der christlichen Weltanschauung und biblischen Story wirklich Sinn ergibt. Ich erlebe in persönlichen Gesprächen, dass Menschen wieder offener sind, mehr über diese Story zu erfahren.


Diese Bemerkung weist uns noch in eine andere Richtung: Das Christliche kann wieder als etwas Einzigartiges gelten, etwas Eigenes, etwas Eigentümliches und für manche etwas Fremdes. Das bringt den Vorteil mit sich, dass wir uns nicht zuerst so verbiegen und verstellen müssen, damit man auf uns hört. Gerade das Schräge und Komische hat eine Wirkung nach aussen. Freikirchen arbeiteten gerne mit dem Konzept der Relevanz: relevanter Gemeindebau, relevante Gottesdienste. Gemeint ist im Prinzip, dass man so Kirche baut und Christsein lebt, dass sich die potenziell Suchenden nicht entfremdet fühlen, sondern durch den Stil, die Musik oder was es auch immer ist, andocken können. Vielleicht sind diese Zeiten vorbei (dies auch als Seitenbemerkung an alle progressiven Freunde, die den christlichen Glauben so herunterbrechen (verwässern), dass er smooth in der Gesellschaft ankommt). Vielleicht ist es an der Zeit, wo wir Christen und unsere christlichen Gemeinschaften und Veranstaltungen wieder mutiger unser Anderssein und unser Ur-Eigenes zelebrieren - das, was uns definiert, weil wir an Jesus Christus glauben und ihm nachfolgen. Die Menschen wollen nicht ein 'heruntergebrochenes' Christsein sehen. Sie wollen das Echte, das Reale und manchmal auch das Schräge erleben, wenn sie sich dafür zu interessieren beginnen. Schweyer und Bartholomä fragen:

Was ist eigentlich unser Alleinstellungsmerkmal? Was könnten Menschen in christlichen Gemeinden finden, was man nicht auch bei anderen religiösen Gruppierungen oder säkularen gesellschaftlichen Institutionen (Vereinen, Interessengruppen, Freizeitangeboten usw.) bekommen kann? (Gemeinde mit Mission, S. 32-33)

Fazit: Die Kirche könnte wieder mehr eine Stadt auf dem Berg bilden die in diese Welt hineinleuchtet. Dazu bräuchten wir aber ein vertieftes und robusteres Verständnis von Kirche, davon was es heisst Jesus Christus auch als Gemeinschaft nachzufolgen. Auf theologisch würde man sagen, wir Evangelikalen brauchen eine bessere Ekklesiologie!


Zum Schluss will ich nur noch einen Punkt erwähnen: Paradoxerweise boomt Spiritualität im säkularen Zeitalter. Wenn man bedenkt, dass der Mensch für Gott geschaffen ist, ist das vielleicht gar nicht paradox. Die Chance für uns? Bringen wir die Menschen mit dem Übernatürlichen Aspekt unseres Glaubens in Berührung. Beten wir für und mit ihnen (so sehr mich das selber herausfordert). Laden wir sie in unsere Gruppen und Gottesdienste ein, wo sie ungefiltert beobachten können, wie wir Gott anbeten, gemeinsam die Bibel lesen und miteinander Abendmahl feiern. Laden wir sie auch an unsere Tische ein, damit wir zusammen essen und austauschen und unseren Gott in der Gemeinschaft erfahren können.


Ich bin gespannt, was das Jahr 2025 und darüber hinaus für uns Christen bringen wird. Vielleicht nicht die grosse Erweckung, aber doch - so hoffe und bete ich - viele kleinere und grössere Möglichkeiten, unseren Glauben in dieser Welt zu bezeugen und unser Christsein vor den Augen der säkularen Stadt authentisch zu leben.



[1] Siehe zu den Statistiken Schweyer und Barholomä, Gemeinde mit Mission, S. 27 oder dann so richtig umfassend Bartholomä, Freikirche mit Mission.


[2] Natürlich entstand die christliche Kirche nicht in Europa und Amerika. Mit Christentum meine ich die Zeit, in der die Kirche und die christliche Religion die ganze Gesellschaft bei uns durchdrang.


[3] Ob wir den Patron des Neuen Atheismus, Richard Dawkins, der sich neu als kultureller Christ bezeichnet - also jemand, der sich zu den oben genannten christlichen Werten stellt, ohne dabei eine tiefere Überzeugung für den christlichen Glauben zu haben - zu diesem Aufbruch mit dazurechnen sollen, bin ich mir nicht so sicher.


[4] Dabei war Spiritualität im 'säkularen Zeitalter' stets vorhanden, wie Charles Taylor es uns gezeigt hat, gerade aus dem Grund, weil der Mensch sich nach dem Göttlichen, nach dem Transzendenten sehnt. Für mehr dazu siehe meine beiden Blogs über Taylor hier und hier. Das Neue hier wäre, wenn sich Menschen wieder vermehrt für christliche Spiritualtät, den christlichen Glauben öffnen würden.


[5] Ich schwanke ein bisschen zwischen beiden Wahrnehmungen: 1) Die Menschen sind dem christlichen Glauben und vor allem der Kirche gegenüber feindlich eingestellt (ist nicht diese Haltung das eigentlich Post-Christliche? Also die Wahrnehmung, die die Menschen haben, gerade weil unsere Gesellschaft einst christlich war und die Kirche zu vieles verbockt hat? In einer prä-christlichen Gesellschaft wäre dies anders, weil das Christliche dort noch keine Vergangenheit hat und als etwas Neues gesehen wird. 2) Die Menschen sind doch auch wieder offen für das Christliche, gerade weil es ihnen fremd und eigenartig erscheint.



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