Hat die Bibel das letzte Wort in ethischen Fragen, oder ist sie am Ende unfähig, unsere aktuellen (ethischen) Herausforderungen zu adressieren, und wenn, dann vielleicht nur sehr indirekt? William Webb würde ungefähr dies sagen, denke ich: Ja, die Bibel hat das letzte Wort. Es sind aber nicht unbedingt einzelne Texte, die isoliert zur Klärung eines ethischen Problems herangezogen werden können/sollen (das berühmte proof-texting). Vielmehr ist es die grundsätzliche Stossrichtung des ganzen kanonischen Materials, die bestimmt, in welche Richtung eine biblische Ethik gedacht werden muss. Und diese Stossrichtung kann halt manchmal gegen einzelne Texte gehen, die wir heute nicht mehr gleich gewichten sollten. Grundsätzlich würden hier auch viele klassisch-konservativ gesinnte Ethiker zustimmen. Ja, zur Gewinnung einer bibliblischen Ethik brauchen wir das ganze biblische Material (natürlich bestehend aus Einzeltexten). Eine Grundsatzfrage, auf die ich im nächsten Artikel noch zurückkommen werde ist, wieviel sich wie stark bewegt? Ketzerisch gefragt, würden wir, nur mit dem Alten Testament bestückt, nicht letztlich auf denselben ethischen Nenner kommen wie mit dem Neuen Testament? Was bei Webb dann sicherlich speziell ist: Die Bewegung, die er wahrnimmt, setzt nicht unbedingt im NT zur Landung an, sondern zieht sich über das Neue Testament fort. Sprich, wir entwickeln eine christliche Ethik auf jeden Fall mit der Bibel, denken aber auch über die Bibel hinaus, weil wir selbst im Neuen Testament noch nicht das fertige Bild bekommen. Dieser Punkt wirft offensichtlich Fragen auf und zieht Kritik nach sich.
Webb's Vorschlag hat vor allem im angelsächsischen Bereich eine breitere Diskussion angestossen. Da Webb, als selbst-bekennender Evangelikaler, an der Autorität der Bibel festhaltend, sich die schwierigen Texte vor allem des Alten Testaments vornimmt, ist er eine wichtige und spannende Figur auch für uns (Vorwürfe, der AT Gott sei 'rachsüchtig und gewalttätig' höre ich nicht nur von den Neuen Atheisten, sondern auch von unseren post-evangelikalen Freunden). Sein erstes Buch, das seinen hermeneutischen Entwurf erstmals vorstellte, war Slaves, Women and Homosexuals (aus dem Jahr 2001), das wir hier in aller Kürze besprechen werden. Danach prüfte Webb in Corporal Punishment in the Bible die schwierigen AT-Stellen, die (angeblich) fordern, dass wir - wenn wir die Bibel zu direkt übertragen - auch heute unsere Kinder noch mit Schlägen züchtigen sollten. Sein aktuellstes Buch Bloody, Brutal, Barbaric?: Wrestling with Troubling War Texts bedient das gleiche hermeneutische Register und behandelt die unbequemen ( problematischen?) Alttestamentlichen 'Gewaltstellen' und 'Kriegstexte'.
Ich halte Webb zugute, dass er die schwierigen Stellen (des AT) nicht einfach ausblendet, sondern ehrlich darum ringt, was sie zu bedeuten und wie sie ihren Platz im biblischen Kanon gefunden haben. Wir Evangelikalen haben solche 'Problem-Stellen' zu häufig einfach weggewischt, verlegen auf den Boden geschaut, und uns dann wieder unseren Lieblingsstellen zugewandt. Die Frage ist: Löst Webb mit seinem Ansatz endlich unsere (hermeneutischen) Probleme? Ich möchte hier beginnen, diese Frage zu beantworten.
Nerd-Alarm: dieser Blogpost eignet sich eventuell nicht für jedermann und jedefrau, da er ein gewisses Grundverständnis von Hermeneutik und ihren Cousins voraussetzt.
William Webb über die progressive Stossrichtung der biblischen Ethik
Webb's Grundgedanke könnte ganz simpel so formuliert werden: Gott offenbart seinen Willen (seine ethischen Vorstellungen, wie wir Menschen leben und handeln sollen) in der Bibel immer Kontext-gerecht und wir müssen damit rechnen, dass er nicht alles auf einmal sagt. Es besteht Raum für Weiterentwicklung und Reifung. Wenn Gott an einem bestimmten Zeitpunkt mit Menschen interagiert, muss er darauf achten, dass er diese Menschen nicht überfordert. Er kann nicht direkt mit dem vollen ethischen Programm einfahren, weil dies die Menschen sonst völlig aus ihrem Kontext herausreissen würde. Und doch wirft Gott immer wieder etwas Neues und vielleicht Herausforderndes in die Situation, um die Menschen dadurch in eine neue, bessere Richtung zu bewegen. Die Bibel beschreibt diese Annäherung Gottes an die Menschen. Wir beobachten also, wie Gott seinem Volk im Verlauf der Geschichte seinen (ethisch-moralischen) Willen mehr und mehr verdeutlicht. Die Neutestamentliche Gemeinde wäre demnach näher bei Gottes finalen ethischen Vorstellungen als Mose. Webb beschreibt diese fortschreitende Offenbarung der göttlichen Ethik mit dem Begriff trajectory, was wir mit 'Flugbahn' oder 'Entwicklungskurve' übersetzen könnten. Gott stösst am Anfang etwas an, das erst noch voll ausreifen muss und sich auf der von ihm gezeichneten Linie weiterentwickeln darf und soll. Wir als Interpreten sollten darum weniger nur die einzelnen Texte auslegen, sondern diese Grundbewegung studieren und sehen, wohin sie uns führt. Seinen Ansatz bezeichnet Webb treffend als redemptive-movement-hermeneutic (RM). Wichtiger als die einzelnen Texte in ihrem historischen Kontext ist die (häufig implizite) Stossrichtung, der sogenannte 'redemptive spirit' eines Textes. Lassen wir Webb am Besten selbst zu Wort kommen:
Die Idee einer RM-Hermeneutik besteht nicht darin, dass Gott selbst sich irgendwie in seinem Denken „bewegt“ hat oder dass die Heilige Schrift in irgendeiner Weise geringer ist als Gottes [direkt geäussertes] Wort. Es bedeutet vielmehr, dass Gott sich im pastoralen Sinne darauf einstellt, Menschen und Gesellschaft dort zu treffen, wo sie sich in ihrer bestehenden Sozialethik befinden, und sie (von dort aus) sanft mit schrittweisen Schritten zu etwas Besserem zu bewegen. Es ist keineswegs einfach, große, komplexe und eingebettete soziale Strukturen auf einem ethischen Kontinuum voranzutreiben. Die schrittweise Bewegung innerhalb der Heiligen Schrift offenbart einen Gott, der bereit ist, mit der Spannung zwischen einer absoluten Ethik in der Theorie und der Realität, echte Menschen in der Praxis zu einem solchen Ziel zu führen, zu leben.
Die göttliche Flugbahn in Richtung einer 'ultimativen (absoluten) Ethik' lässt sich erstmals dort beobachten, wo Gott sich seinem Volk inmitten des altorientalischen Kontexts offenbarte. Was Gott seinem Volk damals und dort vorschrieb, hob sich von der Ethik der umliegenden Völkern nämlich deutlich ab. Die Ethik Israels war bedeutend progressiver, humaner und näher beim Ideal, als die 'primitive Ethik' der anderen Völkern. Gott begann hier, so Webb, mit seinem ethischen Programm. Es war noch nicht seine ultimative Ethik, die sein Volk da in der Wüste leben sollte. Aber der erste Schritt dahin war getan.
Webb entfaltet seine Hermeneutik an drei verschiedenen Baustellen: der Sklavenfrage, der Frage nach der Rolle und Stellung der Frau und nach der Legitimation homosexueller Beziehungen.
Die Sklavenfrage: Hier dürfen wir estimieren, dass die 'Ethik' des Alten Testaments schon um Meilen fortschrittlicher und humaner konzipiert war im Vergleich zur damaligen Praxis der Nachbarsvölker Israels. Soweit so gut. Trotzdem war die Ethik Israels, was Sklaven betraf, noch nicht am Ziel. Schliesslich wurde 'Sklaverei' im israelischen System ja noch nicht abgeschafft, sondern vorausgesetzt - das System lebte in einer Realität, in der es noch Sklaven gab. Man sollte sich hier aber unbedingt die frappanten Unterschiede zwischen der damaligen und der modernen Sklaverei vor Augen führen. [1] In Bezug auf das Alttestamentliche Israel würde man besser von 'freiwilliger Knechtschaft' sprechen. Zu Sklaven wurden die Menschen, die sich in einer äussersten Notlage befanden, und sich darum freiwillig als Arbeitskraft 'verkauften', um so überleben zu können. Dabei war die Zeit für einen solchen Einsatz gesetzlich begrenzt und die volle 'Freiheit' nach dem Ablauf dieser Zeit garantiert. Und trotzdem, auch wenn die Sache mit den Sklaven im Alten Testament 'den Umständen entsprechend' sehr human ablief und gesetzlich gerecht geregelt wurde, kann man sich doch die Frage stellen, wieso Gott kein Gesetz verabschiedete, welches eine solche Dynamik ganz verbietet?
Webb sieht es so, dass Gott hier erstmals einen Stein ins Rollen gebracht habe, der dann schlussendlich bis zur kompletten Abschaffung der Sklaverei weiter rollen würde. Doch rollen musste er noch eine ganze Weile. Dabei finden sich einige wichtige Stationen der 'Verbesserung' im Neuen Testament. Zum Beispiel, wenn Paulus implizit anstösst, dass es zumindest mal in der Gemeinde keine Zweiklassengesellschaft (Sklave versus Freie) mehr geben soll und dass selbst Menschen im 'Sklavenzustand' jetzt als Geschwister in Christus gelten (man sehe auch die Episode von Philemon mit Onesimus). Trotzdem, die 'Ethik des Neuen Testaments' schafft diese Art von Sklaverei auch noch nicht komplett ab, zumindest nicht explizit und sicher nicht auf der gesellschaftlichen Ebene. Die Bahn war zwar vorgezeichnet, musste sich aber noch weiterziehen, über das Neue Testament hinaus. Christen späterer Generationen haben dann entlang der Linie des redemptive-movements der göttlichen Intention weitergedacht und sind zum Schluss gekommen, dass Sklaverei auf allen Ebenen abgeschafft gehört (hier nochmals der Reminder, dass Wilberforce und seine Leute gegen eine komplett andere und viel unmenschlichere Art von Sklaverei kämpften). War also die 'Ethik des Neuen Testaments' in dieser Frage unzureichend? Gemäss Webb war sie eher noch zu wenig ausgereift, noch nicht ideal, noch nicht ganz am Ziel. Das Material war schon vorhanden, musste aber von späteren Christen erst noch konsequent verwertet werden.
Die Frauenfrage: Hier wird's jetzt etwas kontroverser. Zunächst einmal das Setting im alt-östlichen Kontext: Die Frauen im Altestamentlichen Israel genossen weit mehr an Freiheit (um nicht zu sagen Gleichheit) und bekamen viel mehr Würde zugesprochen, als dies bei den umliegenden Völkern der Usus war. Trotzdem konnte man hier noch nicht von einer Verwirklichung der Gleichstellung der Frau sprechen (jedenfalls, wenn wir Gleichstellung im heutigen modernen Sinn verstehen). Hinein ins Neue Testament sehen wir, dass Jesus den Frauen einen 'neuen Status' verlieh und dass die Apostel auch Frauen in ihren Dienst mit einbezogen. Trotzdem drückt selbst bei den Aposteln, zum Leidwesen vieler egalitär-Gesinnter, manchmal noch eine patriarchale Note durch. Scheinbar war es noch nicht an der Zeit, um in diesem Punkt ganze Sache zu machen. Doch wenn man genau hinschaut, kann man laut Webb beobachten, dass die komplette Gleichstellung der Frau an Stellen bereits durchzuschimmern beginnt (in Texten wie Gal. 3,28). Die angedeutete Linie wurde und wird insbesondere in der heutigen Zeit final weitergedacht, so dass wir heute endlich viel näher bei der 'idealen Ethik' der kompletten Egalität und Gleichstellung sind. Dass die Frau dem Mann in nichts mehr nachsteht, sei es beruflich, monetär oder was ihre Rolle in der Ehe und der Gemeinde betrifft, durfte irgendwie erst in neuester Zeit flächendeckend klar werden.
Die Frage nach der Legitimation homosexueller Beziehungen: Bezeichnenderweise macht Webb in diesem Punkt keine Bewegung (trajectory) aus. Innerhalb der Bibel lasse sich in Bezug auf dieses Thema keine Entwicklung feststellen. Die Hermeneutik Webb's sieht keine Möglichkeit, irgendeine Linie vom NT ins Heute zu ziehen, die homosexuelle Beziehungen legitimieren würde. Ende Feuer.
Eine erste Antwort: Gäbe es auch noch andere (evangelikale) Wege nach Rom?
Vieles von dem was Webb bringt, klingt plausibel und gesund. Weil er auf der Basis eines evangelikalen Schriftverständnisses operiert, ist es ihm wichtig, die Einheit der Bibel nicht auseinander zu reissen. Und die Güte Gottes drückt überall durch, auch und gerade im Alten Testament. Webb's Kenntnis der altorientalischen Situation rund um Israel hilft uns zu staunen, wie viel besser und gerechter JHWH das Zusammenleben seines Volkes in einem Kontext gestaltet hat, der an so manchen Stellen ziemlich menschenfeindlich war.
Frage: Könnte man die Sklavenfrage auch unter anderen hermeneutischen Vorzeichen lösen? Es scheint zunächst einmal klar zu sein, dass es bei diesem Thema eine gewisse Bewegung vom AT ins NT gibt. Während 'freiwillige Knechtschaft auf Zeit' im AT noch fest zum gesellschaftlichen Gefüge dazugehörte (doch auch dort schon eigentlich nur als Notlösung, die verhindert werden sollte) und das Gesetz das Kleingedruckte regelte, wird dieses gesellschaftliche Gefüge im Neuen Testament von innen her ausgehebelt. Zumindest 'unterhöhlt' Paulus dieses System mit Aussagen wie dieser geradezu: 'Bist du als Knecht [Sklave] berufen, so sorge dich nicht; doch kannst du frei werden, so nutze es umso lieber.' (1. Kor. 7,21) Man könnte hier von einer soften Revolution sprechen. Also keine politische und gesellschaftliche Revolution, sondern zuerst ein Umdenken innerhalb der Kirche (siehe Gal. 3,28). Daniel Doriani meint:
Paulus äußert seinen Widerstand gegen die Sklaverei nicht in Form eines Frontalangriffs auf die Institution, sondern er möchte eindeutig, dass Christen ihr aus dem Weg gehen oder ihr entkommen, wenn sie können. (Aus Moving Beyond the Bible: 4 Views)
Könnte man hier nicht sagen, dass Gott seine Meinung zur Sklavenfrage abschliessend kundgetan hat? Anders gefragt, gibt nicht der biblische Text genug Anhaltspunkte, um später der Sklaverei ganz den Boden unter den Füssen zu entziehen? Webb meint jein, nicht der Text oder einzelne Texte an sich! Die Bibel habe diese Entwicklung zwar (u. a. durch solche Texte) angestossen, aber es brauchte letztlich doch noch ein konsequentes Weiterdenken 'über die Bibel hinaus'. Die Bibel sei hier noch zu wenig explizit gewesen, rede sie doch gleichzeitig noch von Unterordnung eines Sklaven unter seinen Herren (1. Petr. 2,18). Vielleicht kommt es auf die Finessen an? Ich würde meinen, dass sich spätere Christen wie Wilberforce und Co. gerade anhand der Bibel ihre Meinung bildeten (und gleichzeitig die Zeit dafür reif war). Sie studierten die Schrift, sie argumentierten mit der Schrift und es schien für sie klar zu sein, dass die Bibel 'so und so' sagt - nicht, dass sie nur sub-textlich eine Richtung andeutet. Geschichtliche Studien wie die eines Mark Noll haben gezeigt, dass die Befürworter der Sklaverei im 19. Jahrhundert, die ihre Position anhand der Bibel zu legitimieren versuchten, auf sehr dünnem Boden argumentierten und zudem eine kleine Minderheit bildeten (siehe The Civil War as a Theological Crisis). Es war auch damals für die meisten christlichen Bibelleser klar: Die Bibel verurteilt Sklaverei. [2]
Schwieriger und kontroverser wird es bei der 'Frauenfrage'. Webb argumentiert nämlich, dass die Apostel (Paulus und Petrus) sich in manchen Momenten so stark der kulturellen Situation (der patriarchalen Denke und Struktur der antiken hellenistischen Gesellschaft) angepasst hätten, dass sie am Ende das Gegenteilige von dem vorschrieben, was Gott im Eigentlichen beabsichtigt. So wird beispielsweise argumentiert, dass es den Aposteln ein Anliegen war, dass die Gemeinde nicht allzu stark anecke, damit sie die Menschen besser mit dem Evangelium erreichen könne. Wenn die Apostel gerade zum damaligen Zeitpunkt das komplette Programm der Gleichstellung installiert hätten, wäre die Kirche etwa gleich gut angekommen wie der Strassenprediger, der den vorübergehenden Passanten ihre Sünden an den Kopf wirft. Im damaligen Kontext von Egalität zu reden und sie innerhalb der Gemeinde durchzusetzen, hätte das missionarische Unterfangen der Kirche stark gehindert. [3]
Die Apostel hätten den egalitären Gedanken nur zeitweise angestossen (in Texten wie Galater 3,28), um es dann den nachfolgenden Generationen von Christen zu überlassen, diesen Gedanken voll zu entfalten. Nochmals anders gesagt, der redemptive spirit des Neuen Testaments weise 'unter den - und manchmal gegen die - patriarchalen Texten' klar in Richtung egalitärem Rollenverständnis. Gott hatte seine Gründe, noch mit dem Aufrichten dieser Genderrollen-neutralen Kirche zu warten. Und darum hätten wir die berühmt-berüchtigten Paulustexte in den Timotheusbriefen oder dem ersten Korinther, mit denen wir uns so ungern herumschlagen, als Teil des biblischen Kanons. Nicht weil sie eine bleibende göttliche Wahrheit verkünden. Sondern als festgehaltenes Artefakt, quasi als Versteinerung der kulturellen Anpassung Gottes in der damaligen Situation.
An der Stelle muss ich mich direkter einklinken. Zunächst einmal sei festgestellt, dass sich Birnen nur schwer mit Äpfeln vergleichen lassen. Ich meine, dass das Frauen- und das Sklaventhema im Neuen Testament unterschiedlich behandelt werden. Sklaverei wird (implizit) kritisiert und es wird bereits dazu eingeladen, diesem Modell ganz Adieu zu sagen. Ungleich verhält es sich bei der Frage nach der Rolle der Frau in der Ehe oder der Kirche. Der Einwand von Doriani ist berechtigt:
Wenn wir uns mit den Geschlechterrollen befassen, sehen wir nichts Vergleichbares wie das Zeugnis über Sklaverei. Keine Passage fordert Frauen auf, der Falle der patriarchalischen Ehe aus dem Weg zu gehen oder ihr zu entkommen, wenn sie denn könnten.
Dass die Apostel sich aus missionarischen Gründen der patriarchalen Kultur anpassten, ist den Texten allerhöchstens implizit zu entnehmen (am ehesten vielleicht in 1. Petr. 3,1). Vielmehr propagierten die Apostel ein bestimmtes Rollenverständnis auf der Basis ihrer theologischen Fixsterne (in Bezug auf die Schöpfungsordnung oder sogar im Hinblick auf Christi Verhältnis zur Kirche, seiner Braut: diese Stellen dürft ihr selber raussuchen). Wenn man diese Stellen liest, müsste man doch ehrlich sagen: Das hier tönt nicht nach einer unfertigen Zwischenlösung (im Sinne von, 'wenn die Zeit für's Egalitäre dann gekommen ist, schalten wir diese Texte stumm'). Hätte Paulus dann nicht anders argumentiert? Oder wie konnte er davon ausgehen, dass wir, seine Leser im 21. Jh., ihn verstehen würden?
Es scheint, dass sich die Bibel 'kanonisch' gerade nicht in eine egalitäre Richtung bewegt. Mann muss fast schon 'gegen den Strich der Texte' gehen (oder dann ein inner-biblisches Kriterium wie Gal. 3,28 einführen, das alle anders gelagerten Texte übertrumpft), um eine solche Richtung auszumachen. Mehr noch und problematischer, die These Webb's setzt doch voraus, dass die Apostel an sich nicht frei waren, ihre Meinung (oder besser, was sie als Willen Gottes erkannten) definitiv aufs Papier zu bringen. Paulus hätte sonst ja auch so argumentieren können: 'Was ich euch schreibe ist nicht Gottes letzter Wille für die Kirche, sondern eine zeitgemässe und übergangsweise Anpassung an eure Situation, so dass ihr den Juden zum Juden und den Griechen zum Griechen werden könnt.' Doch nein, die Apostel argumentierten eindeutig in die andere Richtung. Das wiederum lässt mich fragen, wie klar die Bibel für Webb hinsichtlich der Frauenfrage wirklich spricht? Es gäbe genug 'skeptische' feministische Theologen und Theologinnen, die annehmen, dass Paulus genau das sagte, was er sagen wollte, dass aber seine Aussagen gefährlich falsch seien und wir sie heute wegen ihrem frauenfeindlichen Gehalt aus dem kirchlichen Repertoire streichen müssten.
Ist die Bibel dann patriarchal? Nein, sie ist eine Kategorie sui generis. Mit meiner Aussage, dass sich die Bibel nicht in eine 'egalitäre Richtung' bewege, bezog ich mich auf Egalität wie es unsere moderne Kultur definiert. Die Bibel spricht von wunderbarer gegenseitigen Ergänzung (Komplementarität), zeichnet die Genderrollen jedoch unterschiedlich (und ich möchte sagen, in einem absolut positiven Sinn). Vielleicht ist dies ein weiterer Punkt, der zu bedenken wäre: Wenn Webb von einer ultimativen Ethik 'über die Bibel hinaus' spricht, wer oder was definiert diese Ethik? Ist es vor allem das egalitäre Verständnis unserer Zeit, 'ultimativ' konnotiert?
Nun ist die Frauenfrage in Evangelikalien ein bis heute kontroverses Thema. Es gibt beide Seiten, die 'egalitäre' und die 'komplementäre' Seite. Und beide Seiten argumentieren mit der Bibel. Ich gebe zu, dass ich die Lösung der Probleme auch nicht in der Tasche habe. Die Diskussion ist hochkomplex (ein hochaktuelles Beispiel bietet sich uns in der Affäre um Rick Warren und dem Ausschluss seiner Church aus der Southern Baptist Convention, exakt wegen der Position Warren's zur Frauenfrage). Häufig kommen die Egalitären durch harte exegetische Arbeit zu ihrer Auffassung: Die Situation in Ephesus oder Korinth sei derart ausgestaltet gewesen, dass Paulus solche Massnahmen habe ergreifen müssen. Aber diese Massnahmen liessen sich nicht direkt auf die heutige Situation übertragen. Die Komplementären hätten diese Texte nicht gut genug gelesen. Ich will nicht ins Detail gehen. Mich überzeugen solche Argumente meistens nicht. Aber ich halte ihnen zugute, dass sie anhand des Bibeltextes, durch eine Kontext-gerechte Exegese zu ihrem Resultat kommen. Sprich, der Unterschied zwischen beiden Positionen ergibt sich aus ihrer Lesart der biblischen Texte. Sie kommen exegetisch auf andere Lösungen.
Bei Webb nehme ich es eben noch etwas anders wahr: Seine Analyse wird nicht primär durch Exegese, sondern durch seine hermeneutischen Filter gesteuert. Diese Filter suchen nach trajectories, nach sich abzeichnenden Flugbahnen, die manchmal im Text sichtbar werden, aber sonst 'unter dem Text' zu suchen sind und zuweilen sogar gegen bestimmte Texte gehen (so jedenfalls nehme ich Webb wahr). Also, zumindest was die Frauenfrage betrifft, befriedigt mich Webb's Ansatz nicht. Vielmehr meine ich, dass wir alle biblischen Texte (gerade die schwierigen aus dem Timotheusbrief oder dem ersten Korintherbrief) nehmen sollten, um mit dem ganzen Material exegetisch und biblisch-theologisch ein Gesamtbild zu entwerfen, das all diesen Texten am besten gerecht wird. [4]
Noch ein Wort zur Frage nach der Homosexualität. Dass W. Webb hier überhaupt keine progressive Entwicklung ausmacht, finde ich bezeichnend. Diese Tatsache unterscheidet die beiden Themen, die Frauen- und die Homosexualitätsfrage. Während Evangelikale sich bei der Frauenfrage eigentlich immer schon gestritten haben, waren sie beim Thema Homosexualität bis neulich einmütig beisammen. Dennoch frage ich mich, ob Webb's Methode nicht auch in diesem Bereich manchen die Tür für ein 'progressives Verständnis' öffnen könnte. Das Argument würde dann etwa so lauten: 'Warum soll Gal. 3,28 nicht auch auf sexuelle Identitäten übertragen werden können? In Christus gibt es weder Mann noch Frau ist das biblische trajectory, die Flugbahn, der wir zu folgen haben.'
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Dies mal ein erster Schub an Gedanken. Wer immer noch Musse hat, in noch tiefere und komplexere hermeneutische Gewässer einzutauchen, der lese hier weiter.
[1] Ein guter Einstieg in die Thematik bietet Paul Copan, Is God a Moral Monster?, Kapitel 12-14). Dort beschreibt er 'Sklaverei' als 'freiwillige Knechtschaft'.
[2] Bei der Sklavenfrage gewinne ich Webb so einiges ab und vielleicht bewegen sich unsere Differenzen im Nuancenbereich. Auf jeden Fall macht Webb keine gegenläufigen 'Entwicklungen' in der Bibel aus. Die Richtung scheint klar zu sein. Und wenn die Apostel dabei bleiben, dass Sklaven sich ihren Herren unterzuordnen hätten, muss das nicht als rückständige oder rückwärtsgewandte Entwicklung gesehen werden (auf und zurück nach Ägypten in die Sklaverei), sondern darf als 'Regel für den Moment' gesehen werden. Denn die Zeit war noch nicht reif für eine politische Bewegung und politischer Aktivismus zur Abschaffung der Sklaverei hätte die Mission der Kirche damals vielleicht behindert (?).
[3] Wobei man sonst auch nicht gerade behaupten kann, dass die Apostel sich gescheut hätten kulturell anzuecken. Paulus hatte bspw. keine Mühe, in Epheser 5 ein stark gegen-kulturelles Rollenbild zu zeichnen (wer hatte damals schon je von aufopferungsbereiter Führung gehört? Dass der Mann sich für seine Frau hingibt? Das Rollenbild, das Paulus hier zeichnete, war kulturell anstössig). Auch wenn der Mann die Leitungsverantwortung zugesprochen bekommt, ist die paulinische Darstellung im Epheserbrief viel 'egalitärer' als es im antiken Setting bekannt war. Für eine modernen Versuch Epheser fünf auf heute anzuwenden, siehe diesen Beitrag.
[4] Interessanterweise unterscheidet auch Terran Williams (auf die Rick Warren Debatte bezugnehmend), der eine egalitäre Position einnimmt, zwischen einer sauberen Exegese und einem redemptive-trajectories-Ansatz, den er kritisch sieht.
Vielen Dank fuer die Buch-Analyse. Sehr schoen geschrieben, Matt.
Jedenfalls "fuehle" ich, es zu verstehen 😂
Mir hilft diese Vorstellung von gott-gemeinter Flugbahn, Vektor, Entwicklungskurve gut, um Bibelstellen einzuordnen.
Die Autoritaet der Bibel (vgl M.Till) ist - fuer mich - zunaechst eine ENTSCHEIDUNG auf Grund meiner gemachten Gotteserfahrungen (Jesus hat mich insgesamt ueberzeugt).
Es scheint mir fuer mich konsequent von dieser Basis aus, alle Bibelstellen zu beurteilen/zu interpretieren, anstatt leichtfertig auszusortieren/zu destillieren, was der christozentrische Kern der Bibel sein soll/darf. Also im Zweifelsfall noch-nicht-verstehend, stehen lassen statt anmassend wegzustreichen.
Heute habe ich gelernt, dass das Redemptive-Movement-Hermeneutik heisst 😍🤦♂️
LG Joerg
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