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matt studer

Wie finden wir Nemo? – Unfertige Gedanken zum aktuellen christlichen Kulturkampf beim Eurovision Song Contest


Ich gehe gerne in den Zirkus. Doch den Eurovision Song Contest habe ich mir noch nie so richtig gegeben. Mein Musikgeschmack liegt einfach zu weit ausserhalb. Plus sind mir die Perfomances zu dicht aufgeladen, mag ich doch lieber lakonische Filme wie die von Jim Jarmusch, oder die unaufgeregte Musik eines Paul Simon. Ja, ich bin eher der ruhige Typ. Zugegeben, manchmal mag ich auch Blockbuster und treibende Beats …

 

Doch das ist zum Glück nicht das Thema hier. Der Schweizer Musiker Nemo gewinnt den diesjährigen ESC mit einem fulminanten Song, der gut produziert und performt ist, plus einer für unsere Zeit geeigneten Message, wie es scheint. Und dieser Song mit seinem Text, aber vor allem der Auftritt des Sängers polarisiert quer durch die soziale und nicht-soziale Medienlandschaft hindurch. Auch von Christen wird Nemos Durchbruch auf der einen Seite bejubelt und auf der anderen verschrien. Progressive Kräfte hypen den Mut und die Authentizität des Künstlers, der in Malmö die Rolle einer Befreierfigur für alle unterdrückten Minderheiten eingenommen hat. Konservative Elemente haben Angst, dass unsere westliche Kultur nun vollends den Bach runtergeht. Und der Kulturkampf wird mächtig angeheizt – auf beiden Seiten. Mit einem gewollten Seitenhieb in Richtung Konservative (auch) Christen, schreibt Reflab-Autorin Johanna Di Blasi:

Man wird den Eindruck nicht los, dass der ESC und die queeren Sänger*innen gerade recht kamen als Ventil für ohnedies angestaute Genervtheit: gegenüber Wokeness, queerem Lifestyle, Regelabweichungen jedweder Art und einer Jugend, die der Klimanotstand und die Ausweitung von Kriegen in Panik versetzt.

 

Sie hat nicht ganz unrecht, wie ich finde. Bei so manchen Kommentaren, die ich da las, fragte ich mich manchmal, ob wir - mindestens in der Art und Weise wie wir unsere Kommentare auf die Allgemeinheit loslassen – noch dem neunten Gebot entsprechen ‘Du sollst nicht falsches Zeugnis gegen deinen Nächsten reden!’ (Siehe hier) So haben gewisse Beobachter der Szenen in Malmö für mich zum Teil erstaunliche Rückschlüsse hinsichtlich der für mich verborgenen Motive und Intentionen der beteiligten Personen gezogen. Ob uns eine gewisse Zurückhaltung hier nicht besser gestanden hätte? Dazu kommt, dass viele Kommentare echter Hate und verurteilend waren – und dies über die Qualität der Musik und Kleider hinaus. Nicht, dass man keine inhaltliche Kritik anbringen soll. Aber das Wie ist genau so wichtig wie das Was.

 

Ich gestehe, mich hat das Spektakel nicht sonderlich überrascht. Von einem Event wie ESC erwarte ich gerade, dass er den Zeitgeist abbildet. Das gilt auch für das Kunst- und Musikschaffen im Allgemeinen. Als Musiker, der viele Kontakte zu Kulturschaffenden pflegt, weiss ich, dass Musiker und Künstler sich häufig als progressive Speerspitze der Gesellschaft verstehen wollen, die das Anliegen verfolgt, unsere Welt in eine 'bessere Richtung' vorwärts zu pushen. So gehört es heute fast schon zum guten Ton innerhalb der Szene, wenn man sich als non-binär präsentiert. Nein, mich überrascht es also nicht, dass wir dieses Paket geliefert bekommen.

 

Ich bin mir nicht sicher, ob ‘angestaute Genervtheit’ wirklich das Motiv für konservative Hate-Kommentare bildete. Vielleicht ist es auch die wehmütige Realisierung, dass unser einst christliches Abendland sich zu einem heidnischen Morgenland weiterentwickelt hat. Unsere guten christlichen Werte, mehr noch unser christliches Menschenbild wird mehr und mehr untergraben – mit Folgen, die wir (konservativen) Christen bedauern. Es ist verständlich, dass uns solche Entwicklungen und Neuerungen beunruhigen, dass wir uns fragen, wie wir unsere Kinder auf ein gutes Leben in dieser Welt vorbereiten können. Nebenbei bemerkt, was Nonbinarität betrifft frage ich mich schon, inwieweit sich dieses Konzept gesellschaftlich (sowie juristisch und politisch) überhaupt wird durchsetzen können, bringt es doch seine hauseigenen Probleme mit sich (für ein paar Samples siehe diesen NZZ Artikel).

 

Wieder zurück zum christlichen Abendland. Wie positiv auch immer man diese Epoche der christlichen Geschichte bewertet, wir leben definitiv nicht mehr darin – auch wenn wir zu guten Teilen noch davon zehren. [1] Ist das schlimm? Nein! Die erste Kirche lebte auch in einer heidnischen Kultur und florierte sogar darin. Und was ist schlimmer, ein Eurovision Song Contest oder ein Gladiatorenwettkampf? Ja, vielleicht können uns die Erfahrungen der ersten Kirche hier etwas für unsere heutige Situation mit auf den Weg geben? Wir wollen es versuchen ...


Diese Christen bildeten damals eine kleine, unbedeutende Minderheit. Wie wir heute. Sie hatten wenig Einfluss in den grossen Hallen der Politik und auf die Drahtzieher des Weltgeschehens. Sie hängten ihren Glauben auch nicht an die grosse öffentliche Glocke. Trotzdem war die Christengemeinschaft nachweislich anziehend für Aussenstehende. Der Historiker Alan Kreider, der diese Zeitepoche sehr intensiv untersuchte, schreibt:

Die Christen hatten eine charakteristische Herangehensweise an ihr tägliches Leben, die darin bestand, sich zurückzuhalten. (aus seinem Buch The Patient Ferment of the Early Church: The Improble Rise of Christianity in the Roman Empire)

In anderen Worten, sie lebten ein ganz ‘normales’ Leben als Bürger der Stadt und wenn sich die Gelegenheit dazu bot, legten sie Zeugnis über die Hoffnung ab, die sie erfüllte (1. Petr. 3,15). Dass sie ein normales Leben führten heisst aber nicht, dass sie sich gänzlich der weltlichen Kultur anpassten. Wie Kreider meint, lebten sie in einem 'dynamischen Wechselspiel zwischen Indigenisierung und Pilgersein, zwischen Bestätigung und Kritik. Sie lebten in einer existenziellen Spannung zwischen Zuhause und Fremdsein.'

 

In dieser Spannung leben auch wir, selbst wenn wir den idealen Spannungszustand nie ganz erreichen. Was ‘kulturelle Abstinenz’ (Pilgersein) oder christlich-gesellschaftliche Kritik anbelangt, macht Kreider diese Beobachtung: Gerade im Bereich der Sexualität lebten die Christen komplett unangepasst an die damalige weltliche Kultur. Ihr sexueller Lebensstil war derart revolutionär, dass er einfach auffallen musste. So lesen wir es in einem anonymen Brief an einen gewissen Diognetus, der (ich meine den Brief) neben Sexualität auch noch den diakonischen Dienst der Gemeinde an den Armen erwähnt:

Sie [die Christen] leben in ihren jeweiligen Ländern ... Sie nehmen als Bürger an allen Dingen teil und ertragen alles als 'Ausländer' [lies Pilger, Fremde in der Welt] . . . Sie heiraten wie alle anderen und bekommen Kinder, aber sie setzen ihre Kinder nicht aus, sobald diese geboren sind [sonst eine gängige Praxis damals] . Sie teilen ihre Mahlzeiten, nicht aber ihre Sexualpartner. Sie gehorchen den Gesetzen, die erlassen wurden, und durch ihr eigenes Leben setzen sie die Gesetze außer Kraft. . . . Sie verarmen und machen viele reich. . . . Um es einfach auszudrücken: Was die Seele im Körper ist, das ist es, was Christen für die Welt sind.

Auf was will ich hinaus, fragst du dich vielleicht. Was hat das alles mit Nemo und dem ESC zu tun? Eine berechtige Frage. Ich glaube, ich möchte unseren Fokus weg von dem, was alles nicht gut ist, auf das richten, was so richtig gut sein könnte. Nämlich auf die Kirche die, egal in welchen Umständen, niemals untergehen wird. Konkreter, was wäre, wenn die Welt uns Christen weniger dafür wahrnehmen würde, wie laut wir gegen etwas anschreien und mehr dafür, wie anders wir unser (sexuelles) Leben gestalten? Kreider beschreibt, wie diese Dynamik zur Zeit der ersten Kirche Gestalt annahm und wie die Christen, gerade weil sie so gegenkulturell lebten, Interesse in der Gesellschaft weckten. Er zitiert den Apologeten Minucius: 'Die Schönheit ihres Lebenswandels macht Fremden Mut, sich ihren Reihen anzuschließen.' Alan Kreider fährt fort: '[Und das] hatte mit dem Ruf der Christen für ihre 'sexuelle Disziplin' zu tun. So schrieb auch der nichtchristliche Philosoph Galen, dass 'ihre [der Christen] „Zurückhaltung im Zusammenleben“ ihn dazu zwangen, den christlichen Glauben als eine Bewegung von philosophischer Substanz ernst zu nehmen.' Zurückhaltung im Zusammenleben, das nenn ich mal schön formuliert.


Natürlich werden wir Christen für unsere konservative Sexualität belächelt und vielleicht sogar ausgegrenzt werden. Viele werden bei uns weniger eine philosophische Substanz denn einen bigoten Traditionalismus ausmachen. Trotzdem frage ich mich, ob darin nicht auch ein explosives Potenzial steckt. So habe ich es jedenfalls auch schon erlebt: 'Was, du hast in deinem Leben nur eine Frau gehabt?' In diesem Ausruf paaren sich Erstaunen und Unglauben mit Neugier und Interesse. Und so mancher meiner Freunde, dessen Story in einem Beziehungsbruch endete, wünschte sich, er hätte ein besseres Rezept gehabt als 'ich liebe dich, solange du mir das gibst was ich von dir möchte'. Das Problem ist nur, dass wir Christen uns oft gar nicht von 'der Welt' unterscheiden: Scheidungen, Sex ausserhalb der Ehe, you name it. Wenn wir nicht anders leben als die Welt, kann man uns auch nicht von der Welt unterscheiden. So einfach ist das. (Und nur damit keine Missverständnisse aufkommen: Sexualität im biblischen Sinn, innerhalb des von Gott gesetzten Rahmens zu leben, ist alles andere als einfach. Gerade in der heutigen Zeit).


Ich will damit keinesfalls ausschliessen, dass man hier und da auch mal einen pfiffigen und gleichzeitig nächstenliebenden Kommentar auf Facebook posten soll. Oder dass man, wenn man die Berufung dafür hat, einen politischen Weg wählt, um sich gegen Abtreibung einzusetzen. Auch sage ich nicht, dass man sich als Christ nicht kritisch mit der kritischen Theorie (von der die Queer-Theorie eine Verästelung bildet) befassen und auch dazu Stellung beziehen soll. (Ich selbst habe das schon gemacht). Ich hege nur insgeheim den bescheidenen Wunsch, dass wir Christen nicht zuerst als die grossen Kulturkämpfer wahrgenommen werden, sondern als eine Gemeinschaft, die auf ihre Art und Weise quer (nicht queer) in der Landschaft steht und sie dadurch bereichert sowie herausfordert. So dass Menschen sehen können, wie das Reich Gottes inmitten einer Gruppe von Menschen Gestalt annimmt und dann sagen: ‘Spannend, wie ihr das macht, auch wenn ich es nicht wirklich verstehe.’ Ich weiss schon, dass das ein grosser Wunsch  ist. Trotzdem will ich ihn hier platzieren.

 

Das ganze Unterfangen kann nur dann gelingen, wenn Christsein nicht mit einem Ticket in den Himmel, sondern mit einem konsequenten Leben in der Nachfolge Jesu Christi in der Gemeinschaft der Gläubigen in Verbindung gebracht wird. Es bräuchte verbindliche Gemeinschaften, die die 'ethische Latte' gar nicht mal allzu tief ansetzten. Auch dazu ist es spannend, bei der ersten Kirche zu schauen. Denn diese Kirche operierte nicht nach dem Prinzip von 'belonging before believing' (du gehörst zuerst einmal dazu, bevor du überhaupt anfängst christlich zu denken und zu leben). Natürlich gab es auch damals Zuschauer. Interessierte, die bei diesem Christending mitlaufen konnten. Gleichzeitig war klar, dass diese Mitläufer zwar willkommen, aber nicht im vollen Sinne beteiligt waren. So war ihnen die Teilnahme an den Gottesdiensten mit der Abendmahlfeier untersagt! Dazu mussten sie erst einmal einen längeren katechetischen Prozess durchlaufen, der nicht nur ihr Denken, sondern auch ihr praktisches Leben und Handeln - z. b. wie sie mit ihrem Geld haushalteten - adressierte und sich taufen lassen. [2]


Ich sage damit nicht, dass wir das heute genau gleich machen sollen. Ganz am Anfang der Kirche waren die Apostel ja relativ schnell dabei, neue Leute zu taufen und die Praxis der Katechese entwickelte sich erst danach. Trotzdem, wie kann es uns heute gelingen, junge wie alte Leute, Frauen, Männer und Nonbinäre in einen Lebensstil der Nachfolge zu führen, so dass sie am Ende wirklich 'mit der Welt gebrochen' haben und ihrem Herrn Jesus Christus mit ganzem Leben nachfolgen? Ich bin kein Pastor und gebe darum auch keinen Tipp ab (would you Pastors please stand up!).


Zum Schluss noch dies: wenn dann wieder mal ein ESC ausgestrahlt wird, zum Beispiel nächstes Jahr in der Schweiz, dann könnte diese Frage vielleicht helfen: Schaue ich hin und rege mich auf, oder mache ich es wie die ersten Christen, die halt einfach nicht an diese Gladiatorenwettkämpfe gingen, sondern sich in ihren Häusern trafen, um das Brot zu brechen und Gott anzubeten? Also anstatt panem et circenses (Brot und Spiele) lieber panem et Christus


 

[1] Eines der besten Bücher, das beschreibt wie die westliche Welt nach wie vor von ihrer langen christlichen Phase zehrt und profitiert ist Tom Holland, Dominion: The Making of the Western Mind.

414 Ansichten1 Kommentar

1 comentario


Johanna Di Blasi
Johanna Di Blasi
17 may

Hey, ich finde deinen Blogpost spannend und freu mich, dass du RefLab aufgreifst. Toll, wie es dir gelingt, den frühchristlichen Geist wachzurufen. Was mir aber etwas zu schnell geht, ist die Gleichsetzung mit der damaligen Zeit. Die frühen Christinnen und Christen lebten unter einer oppressiven imperialen Besatzungsmacht (heute denken, glaube ich, nur die deutschen Reichsbürger, das wäre auch bei uns so). Vor diesem verschärften, ja apokalyptischen Hintergrund entwickelten sie damals eine Gegenkultur. Wer im christlich geprägten Europa heute meint, kulturell in Deckung gehen zu müssen, hat andere Beweggründe: z.B. antimodernistischer Affekt innerhalb eines Christentums, das beides in sich hat: Modernismus und Antimodernismus. Wo ich deine Einschätzung wieder teile: Das mediale Unterhaltungsspektakel kann man zu einem gewissen Grad mit der antiken…

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