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Wenn wir Bibel und Zeitung übereinander lesen - Geopolitik und Endzeitprophetie

  • matt studer
  • 11. Okt. 2023
  • 9 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 18. Feb.



Mit dem Weltuntergang im Rücken liest sich die Zeitung wie das Evangelium.

(Walter Fürst)


Sei dir darüber im Klaren, dass die Zeit vor dem Ende eine schlimme Zeit sein wird.

(2. Timotheus 3,1)


Wir sind fest beeinflusst davon, was in dieser Welt geschieht. In einem globalen Zeitalter ist uns bewusst, dass wenn China den Schalter umlegt, wir das in Deutschland oder der Schweiz eher früher als später ebenfalls zu spüren bekommen werden. Globale Krisen wie Corona, der Ukrainekrieg und aktuell die schrecklichen Attentate in Israel machen uns tief betroffen. Sie betreffen uns, weil wir mit dieser Welt verwoben und verlinkt sind.


Der Mensch ist ein Wesen, das die Welt erklären will. Wir wollen begreifen, warum etwas ist wie es ist. Wir streben danach, den tieferen Sinn dahinter zu verstehen. Wir hören auf Experten, die uns die Zusammenhänge aufdröseln. Christen sind darin genau gleich wie alle anderen, nur, dass sie zudem ein autoritatives Buch zur Hand haben. Und sie haben ihre eigenen Experten, die mit Hilfe der Bibel eine tiefere Sicht der Umstände vermitteln wollen. Soweit so gut. Die Bibel ist nun mal die massgebende Richtschnur für Gläubige, so dass man 'mit Hilfe der Schrift allen Anforderungen gewachsen ist.' (2. Tim. 3,17) Das drängende Problem ist, wie Christen zuweilen mit der Bibel hantieren, wenn sie als Folie über die Zeitung gelegt wird, so dass die aktuellen Events direkt mit Aussagen der Bibel in Verbindung gebracht werden.


Ich möchte in diesem Artikel auf dieses Phänomen der 'Zeitungsexegese', wie es mein ehemaliger Studienleiter zu nennen pflegte, eingehen. Das soll nicht respektlos klingen. Ich bin mir bewusst, dass wer mit einer solchen Hermeneutik an den Text herangeht, ein ehrliches und nobles Anliegen verfolgt. Er oder sie will die Bibel richtig verstehen und für die aktuelle Zeit anwenden. Nur glaube ich, dass dieser hermeneutische Pfad am Ende nicht wirklich hilfreich ist, dass er häufig mehr polarisiert als eint, und dass er vom wirklich Wesentlichen ablenkt und zu pessimistisch auf die Zukunft schaut, gerade weil das Wesentliche ausser acht gelassen wird.


Wenn die Bibel die Zeitung auslegt, oder wenn die Endzeit wieder mal anbricht

Wer sucht, der findet - alles mögliche. So wird oder wurde geglaubt, dass die Corona-Impfung dem 'Malzeichen des Tieres' aus Offenbarung 13 entspreche. Oder dass der Prophet Hesekiel den Ukrainekrieg voraussagte ('Fürst Rosch' aus Hesekiel 38,1-3 tönt doch verdächtig ähnlich wie Fürst Putin von Russland). Biblisch konkreter wird es immer dann, wenn der moderne Staat Israel mit im Spiel ist. [1] Gerade heute fragen sich viele Christen, ob die Anschläge der Hamas auf Israel nicht klare Anzeichen sind, dass wir nun in der Endzeit, wie die Bibel sie voraussagt, angekommen sind. Auf bibelpraxis.de lesen wir (Hervorhebung von mir):

Am Samstag, den 7. Oktober, an einem hohen Feiertag der Juden, der auch noch auf einen Sabbat fiel ... genau 50 Jahre nach dem Beginn des Jom-Kippur-Krieg am 6. Oktober 1973, hat die Terror-Organisation Hamas einen verheerenden militärischen Anschlag auf Israel verübt ... Als Christen fragen wir uns. Was hat das zu bedeuten? Gibt das (weitere) Hinweise auf die Endzeit? Können wir jetzt klarer sehen, wie und wann es weitergehen wird? Die Bibel gibt Auskunft! Gut, wenn wir uns nach dem richten, was wirklich wahr ist und Autorität besitzt.

Mir ist bewusst, dass wir ein heikles Thema ansprechen. Deshalb diese Bemerkungen vorweg: Mir geht es in keiner Weise darum zu verharmlosen, was im Moment gerade geschieht. Die Terroraktionen der Hamas sind aufs Schärfste zu verurteilen. Es ist absolut geboten, sich in dieser Situation 'hinter Israel zu stellen', wie dies der Dachverband der Freikirchen in der Schweiz verlautbaren liess. Wenn ich dieses Beispiel bringe, dann um zu zeigen, wie solche aktuellen Events anhand der Bibel eingeordnet und ausgelegt werden. Doch gibt die Bibel wirklich darüber Auskunft? Müssen wir diese Events als prophetische Zeichen und Erfüllungen verstehen, die Gott durch seine Propheten im Alten Testament angekündigt hatte? Und teilen uns diese Events, wenn man sie so liest, wirklich unseren genauen chronologischen Platz auf Gottes Zeitachse auf?


Um diese Praxis des Bibel-und-Weltgeschehen-Lesens besser zu verstehen, macht es Sinn zu fragen, woher diese geopolitische Lesart der Bibel eigentlich kommt? Sicher gab es immer wieder diejenigen, die das Ende der Welt kommen sahen, weil sie bestimmte Geschehnisse 'biblisch' interpretierten (weil sie annahmen, dass die Bibel exakt ihre Zeit und politische Situation adressierte). Es wurden auch immer wieder kuriose Rechnungen angestellt, um den Weltuntergang zu bestimmen: z. B. im Jahre 999, als Papst Silvester II (ein passender Name für das Ganze) die 'letzte Messe der Geschichte' einläutete. Warum die letzte Messe? Weil man anhand der Bibelstelle in Offenbarung 20,7-8 annahm, dass der Satan nach seinen 1000 Jahren Gefangenschaft wieder befreit würde und der letzte Tag anbrechen würde. Mehr als 800 Jahre später (die Welt drehte also immer noch um die Sonne) erschien der Prophet William Miller, auf dem Parkett, um zu verkünden, dass er den Code zur Bestimmung der Wiederkunft Jesu geknackt habe. Die Voraussage war, dass Jesus irgendwann zwischen dem 21. März 1843 und dem 21. März 1844 erscheinen würde. Als sich diese Rechnung als falsch herausstellte, propagierte man einfach den 21. Oktober 1844 als das neue Ankunftsdatum. [2] Trotz solcher Episoden kann man sagen: Die Kirche war über weite Strecken ihrer Geschichte vorsichtiger und agnostischer im Umgang mit Weltgeschichte und biblischer Prophetie.


Doch gab es da einen wichtigen und markanten Wendepunkt in der Geschichte der evangelikalen Bewegung, eine theologische Neuerscheinung, die unsere Haltung zu den weltgeschichtlichen Entwicklungen wenigsten implizit mitprägte. Die theologische Strömung nennt sich Dispensationalismus. Unter anderem berühmt geworden durch die Left Behind - Romane (auf Deutsch: Finale - Die letzten Tage der Erde) von Tim Lahaye und Jerry Jenkins, gilt der Dispensationalismus als eine Lesart, die aus den Bibeltexten einen ganz spezifischen, chronologischen Endzeitfahrplan ableiten will. Man wirft den anderen Auslegungsmodellen vor, dass diese die Bibel nicht wörtlich genug nähmen, weil sie die fraglichen Bibelstellen zur Endzeit 'geistlich' weginterpretierten oder nur historisch verstünden. Im Zusammenhang mit dieser explizit wörtlichen Auslegung versteht man im Dispensationalismus die in der Bibel beschrieben Ereignisse nicht nur wortwörtlich und historisch bedingt, sondern in Bezug zu heutigen Ereignissen. Wenn man diese biblischen Prophetien richtig interpretierte, ergäbe sich eine chronologische Abfolge der Ereignisse für Heute, an der man sich konkret orientieren könne. [3]


Um eine komplexe Angelegenheit vereinfacht darzustellen: Im dispensationalistischen Schema rechnet man mit einer kurzen Phase der Endzeit, der sogenannten Trübsalszeit oder grossen Drangsal, die gemäss dem Buch Daniel und dem Buch der Offenbarung sieben Jahre dauern wird (eingeteilt in zweimal dreieinhalb Jahre). Eingeläutet werde diese Phase durch die Entrückung der christlichen Gemeinde. Die Drangsal würde dann vor allem die Juden betreffen, mit denen Gott den Faden wieder aufnehmen wird. Ein spezifisches Merkmal der dispensationalistischen Hermeneutik besteht darin, dass man die Kirche und das ethnische Volk Israel als zwei strikt voneinander getrennte Entitäten betrachtet, mit denen Gott unterschiedliche Ziele verfolgt. Im Dispensationalismus versteht man viele der Altestamentlichen Prophetien an Israel als Voraussagen, deren Erfüllung in einer endzeitlichen Zukunft mit Israel noch ausstehen muss. Das macht den Dispensationalismus anfällig für Zeitungsexegese. Denn immer, wenn sich in Israel etwas ereignet, angefangen bei der Gründung des Staates, über den Sechstagekrieg oder die Siedlungspolitik, findet man sofort die passenden Bibelstellen dazu, um diese Ereignisse 'prophetisch', auf dem Hintergrund des Alten Testaments zu deuten. Sam Storms meint:

Der Dispensationalismus ist in einzigartiger Weise dafür geeignet, eine Entsprechung zwischen biblischen Prophezeiungen und aktuellen Ereignissen herzustellen. Verständlicherweise fühlen sich die Menschen zu einem System der Theologie hingezogen, von dem sie glauben, dass es empirisch verifiziert werden kann, indem man einfach die Zeitung liest. Es hilft auch, wenn Menschen das Gefühl haben, dass ihr eigenes Leben und das, was sie täglich erleben, Teil von Gottes letztem Akt in der Geschichte der Menschheit sind. Es ist aufregend, die Nachrichten zu sehen oder einen Bericht zu lesen und zu sehen, wie die eigene Welt in etwas verwickelt ist, von dem man annimmt, dass es die buchstäbliche Erfüllung antiker Prophezeiungen ist. (aus Kingdom Come: The Amillenial Alternative, S. 44)

Damit will ich nicht sagen, dass das ethnische Volk Israel keine wichtige Rolle spielt oder auch in Zukunft spielen wird, wobei man sich in der Kirchengeschichte hier gewöhnlich agnostischer vorgetappt hat. [4] Man hat die Erfüllung der AT-Prophetie über weite Strecken nicht so rigoros auf ein endzeitliches Israel hin interpretiert. Ich finde es wichtig, sich bewusst zu machen, dass der Dispensationalismus ein relativ neuer Player auf der hermeneutischen Wiese des Christentums ist. Doch heute hat er die evangelikale Welt eingenommen, so dass es scheint, man hätte die Bibel schon immer so verstanden und es gäbe gar keinen anderen Weg, sie anders zu verstehen.


Wie man die Bibel auch noch lesen könnte: (m)ein Vorschlag zum Thema Endzeit

Persönlich bin ich der amillenialistischen Lesart zugeneigt. Hier versteht man die Endzeit als eine Phase der Heilsgeschichte, die ihren Anfang bereits mit dem Kommen Jesu, oder dann sicher nach Pfingsten genommen hat. [5] Gott hat seinen Geist 'am Ende der Zeit', oder 'in den letzten Tagen' über seine Jünger ausgegossen (Apg 2,17-18). Und der Apostel Johannes mahnt seine Gemeinden: 'Kinder, es ist die letzte Stunde! Und wie ihr gehört habt, daß der Antichrist kommt, so sind nun viele Antichristen geworden; daher erkennen wir, daß die letzte Stunde ist.' (1. Johannes 2,18) Wie konnte Johannes damals von der letzten Stunde reden, wenn diese erst über zweitausend Jahre später kommen sollte? Genauso kann man sich fragen, warum Johannes sein Buch der Offenbarung an die Gemeinden in Kleinasien sandte, wenn die Christen dort gar nichts damit anfangen konnten, weil der Inhalt ausschliesslich der zukünftigen Endzeitgemeinde galt? Um es nur ganz kurz anzuschneiden: im Modell des 'Amillenialismus' (A-Millenium = es gibt kein Millennium, kein tausendjähriges Reich am Ende der Zeiten) liest man das Buch der Offenbarung nicht chronologisch von vorne bis hinten durch, sondern man versteht es zyklisch. Johannes 'umrundet' die Weltgeschichte, wobei gewisse historische Eck- oder Endpunkte schon klar gesetzt werden: Das Auftreten eines finalen Antichristen, die Wiederkunft Jesu, das letzte Gericht und die endgültige Vernichtung Satans. Insofern spricht die Offenbarung schon von politischen Ereignissen, aber nicht so, dass man sie konkret nur einem einzigen Referenten, einem einzigen historischen Ereignis, vielleicht gerade den Ereignissen, die sich heute vor unseren Augen abspielen, zuordnen könnte. Vielmehr schreibt Johannes 'allgemeiner' von tendenziösen Ereignissen, die sich in der Geschichte der Welt immer wiederholen. Dabei muss der erste Bezugspunkt zur Zeit der Niederschrift zu finden sein. Der Apostel Johannes schrieb an bestimmte Menschen in einem bestimmten Kontext, Juden- und Heiden-Christen im römischen Reich. So könnte es so gewesen sein, dass man den Kaiser Nero als 'Antichristen' sah. Im weiteren Verlauf der Weltgeschichte gab es dann durchaus andere Anwärter auf den Titel. Man versteht das Buch der Offenbarung im amillenialistischen System so, dass es von generellen Dynamiken handelt, die sich in der Weltgeschichte immer wieder ähnlich manifestieren und dass es eben demzufolge nicht darum geht, sich auf einer Zeitachse zu lokalisieren. Dies wäre auch gar nicht das Anliegen und die Hauptaussage der Offenbarung. Warum schöpfte die Kirche - und gerade die verfolgte Kirche - immer wieder Hoffnung aus der Botschaft des Offenbarungsbuches? Doch weil Gott in seiner Weisheit durch den Seher Johannes die Gemeinde aller Zeiten adressiert, und nicht nur die letzte Generation. Es gäbe viel mehr zu sagen, aber ich stoppe hier mal.


Eine Mahnung zur Vorsicht - und zum Festhalten an dem, was uns wirklich eint!

Das Mindeste, was wir aus der ganzen Diskussion lernen können ist, dass sie komplex ist. Kein Wunder, dass es zum Thema Endzeit verschiedene Positionen gibt. Augustinus änderte im Lauf seines Lebens seine Meinung von Premillenialismus zu Amillenialismus. Wenn selbst ein Theologe seines Kalibers in dieser Frage wankelmütig sein kann, wie steht es dann mit uns? Was ich damit sagen will ist, dass wir unsere Gemüter in dieser Frage kühlen sollten. Der Dispensationalismus tritt manchmal zu forsch und selbstsicher auf und nimmt nicht zur Kenntnis, dass die Kirche über 1900 Jahre eine andere Position (oder andere Positionen) zur Endzeit und zur Frage, wie man AT-Prophetie interpretieren soll, vertrat.


Was mir dabei am Wichtigsten ist: Wir stehen immer wieder in der Gefahr, die wirklich wichtigen Punkte der biblischen Eschatologie zu vernachlässigen, wenn wir uns zu sehr damit beschäftigen, wie die Gegenwart einem Endzeitfahrplan zuzuordnen ist. Ich spreche von den Höhepunkten wie der Neuschöpfung, der leiblichen Auferstehung von den Toten oder dem letzten Gericht. Wie oft denken wir tiefschürfend über diese Realitäten nach, so dass sie unser Christsein, ja, unsere Spiritualität prägen? Anstatt uns auf unbedeutenden (und zum Teil sogar ungesunden) Nebenschauplätzen aufzuhalten, sollten wir mehr Zeit im Epizentrum der guten Botschaft verbringen, die das Ende der Welt adressiert, so viel ist klar, die aber weniger Wert auf die Details legt, sondern den Fokus auf unseren Gott richtet, der alles, inklusive aller Details, im Griff hat.



[1] Seit der Gründung des Staates Israel im Jahre 1948 wurde über die Wiederkunft Jesu und das Ende spekuliert. Das wohl berühmteste Beispiel findet sich in Hal Lindsey's The Late Great Planet Earth, damals einem Millionenbestseller, dessen Botschaft ganz tief ins evangelikale Gemüt (in Amerika und via Amerika zu uns) eingesickert ist.


[2] Diese und viele weitere Beispiele kann man im Buch Doomsday Delusions: What's Wrong with Predictions about the End of the World von C. Marvin Pate und Calvin B. Haines nachlesen.


[2] Wer sich vertiefter damit auseinandersetzten möchte, dem empfehle ich Sam Storms Kapitel in Kingdom Come: The Amillenial Alternative, S. 43-69.


[3] Siehe dazu Gregg Allison, Historical Theology: And Introduction to Christian Doctrine, S. 683-701.


[4] Eine der wichtigsten Passagen dazu steht im Römerbrief Kapitel 11, bei der sich die verschiedenen Ausleger aber nicht einig sind, wie diese Stelle genau zu interpretieren sei.


[5] Eine exzellente exegetische Abhandlung dazu, dass wir uns schon seit zweitausend Jahren in der Endzeit befinden, findet man in Kim Riddlebarger A Case for Amillenialism: Understanding the Endtimes.

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