One of the features of our time is that churches are dividing over politics, because people are finding themselves far more passionate and moved by political and social issues than they are by the truths of our faith, and especially the centrality of the gospel of Christ. They become most exercised and emotional not in worship, but over flashpoint political and cultural issues. That is a sign of a spiritual vacuum in Christians’ lives, an emptiness. (Tim Keller - The Path to Renewal)
In den letzten drei (eigentlich vier) Beiträgen habe ich meine persönliche Innenansicht des 'evangelikalen Problems' zur Begutachtung vorgelegt. Ich habe zuerst argumentiert, dass wir uns schwer damit tun, wirklich Kirche zu sein (anstatt sie als Programm oder Konsumgut anzubieten). Weiter habe ich festgestellt, dass wir vor der eminent grossen Herausforderung stehen, das Evangelium einer post-christlichen Gesellschaft (und uns selber) wieder plausibler zu machen. Drittens habe ich behauptet, dass wir in all dem den Boden unter den Füssen zu verlieren scheinen, weil wir unseren historisch-theologischen Kern (das Evangelium) mehr und mehr aufgeben oder als zweitrangig-irrelevant abtun.
Es braucht eine Erneuerung, die von innen kommt, aus den ureigensten Ressourcen der evangelikalen Bewegung: Eine Rückbesinnung und Refokussierung auf das Evangelium von Jesus Christus. Wenn der Evangelikalismus eine geistliche Bewegung bleiben will, muss er zurück zu den geistlichen Quellen, die ihn immer schon versorgt und zu einer vitalen und dynamischen Bewegung gemacht haben. Wir müssen nicht zuerst relevanter oder kultursensibler oder sogar politisch aktiver werden. Wir müssen zurück zur Quelle - ad Fontes, wie das Motto der Humanisten der Renaissance lautete - und dieses Wasser wird in der einen oder anderen Form überfliessen. Darüber hinaus müssen wir aber auch Busse tun! Dass wir uns auf Trivialitäten verbohrt haben. Dass wir die Abgrenzungszäune auf eigentlich offenen Weideplätzen errichtet haben. Dass wir uns im Tonfall und Habitus in der Kommunikation mit Andersdenkenden vergriffen haben. Dies und vieles mehr.
Die Herausforderung der Gegenwart ist diese: Schaffen wir es, uns im Kern zu einigen, so dass genügend Spielraum für Differenzen darum herum bestehen bleibt? Und gelingt es uns, die Grenzbarrikaden auch an den richtigen Standorten aufzustellen? Eine Bewegung braucht nämlich all dies: Einen festen Kern in der Mitte, eine grosse Spielwiese der freien Meinungsdifferenzierung darum herum, sowie eine klare Grenze an der Peripherie. Denn ohne festen Kern entsteht keine Einheit, aber ohne Grenze verschwimmt die Kontur. Auf diese zweipolige Herausforderung, Kern und Grenze, will ich in diesem Beitrag eingehen. [1]
Anmerkung der Redaktion: Ich denke und schreibe aus meiner konservative(re)n Sicht der Dinge (ich zitiere Tim Keller, hallo!). Manch einer meiner Leser würde den Kern vielleicht gerne anders (oder gar nicht) definieren und die Grenzen definitiv anderswo setzen oder gar keine setzen (wenn das überhaupt möglich ist). Aber genau hier treffen wir auf die gegenwärtige Krisis: Wird die evangelikale Bewegung, bestehend aus konservativeren und progressiveren Stimmen, zu einem gemeinsamen Miteinander vorwärts finden, oder wird sie sich in verschiedene Teile aufsplittern?
1) Evangelikaler Kern? Zwei sich abzeichnende Antworten auf die plurale Situation
Selbst in den zentralsten Glaubens- und Lebensfragen werden viele unsicher. Was früher manchmal so klar schien, scheint auf einmal zwischen den Fingern zu zerrinnen. Die Kirchen und Gemeinden, die Haltungen und Positionen werden pluraler, Orientierung zu finden immer schwieriger. (Steffen Kern) [2]
Pluralität liegt in der Luft. Mit all den möglichen Möglichkeiten konfrontiert, gewöhnt man sich allmählich daran, dass alles möglich, aber nichts allgemeingültig ist. Pluralität bringt einen Subjektivierungs-Trend mit sich: Es ist nicht länger möglich zu bestimmen, was 'objektiv' oder allgemein wahr ist. Darum überlassen wir die Entscheidung darüber gern jedem Einzelnen. Was sich für dich richtig anfühlt ist richtig. Aber wehe du behauptest, dass 'deine Wahrheit' auch für andere 'wahr' ist. So etwas darfst du nicht tun, es sei denn du willst dich in die fundamentalistische Ecke stellen. Ich nenn dies das postmoderne Lebensgefühl der heutigen Zeit: Jedem seine Wahrheit - aber keine absolute Wahrheit. [3]
Daneben lässt sich ein weiterer Trend beobachten, den man als Emanzipations-Trend bezeichnen könnte: So wie ihr früher geglaubt habt, ist heute nicht länger haltbar. Auch wenn das unsere Kinderstube war, wir sind jetzt erwachsen und müssen unsere eigenen Wege gehen und unsere Entscheidungen selber treffen. Und dies sind Entscheidungen und Wege, die (für) uns passen (Subjektivierungs-Trend) und die mit der heutigen Zeit übereinstimmen. Christlicher Glaube muss mit der Zeit gehen, wenn er relevant bleiben will. Wir befinden uns hier im post-evangelikalen Zimmer des evangelikalen Hauses.
Es ist selbstevident, dass eine verbindliche Ausformulierung eines (evangelikalen) Kerns unter diesen Trends keine leichte Sache ist.
Wie gehen (deutsche) Evangelikale mit Pluralität in ihren eigenen Reihen um? Thorsten Dietz und Markus Till, zwei fähige Beobachter der Szene, erkennen beide analog zwei sich abzeichnende Richtungen. Für Dietz stehen die Allianz-Evangelikalen auf der einen Seite. Sie wollen Pluralität zugunsten des gemeinsamen missionarischen Auftrag gerne aushalten. Auf der anderen Seite sieht Dietz die Bekenntnis-Evangelikalen. Ihnen ist ein verbindliches, eindeutiges Bekenntnis wichtiger als eine schwammige Einheit:
Für die evangelikale Theologie der Gegenwart ist das eine Schlüsselfrage: Werden die Evangelikalen lernen, ihre geschichtlich gewachsene Vielfalt in theologischen Ansätzen zu akzeptieren? Oder wird sich die neuere Sehnsucht nach Eindeutigkeit und Klarheit des gemeinsamen Bekennens in möglichst vielen Fragen durchsetzen? (Dietz, Menschen mit Mission, S. 189)
Ganz ähnlich formuliert Till:
Das eine Narrativ sagt: Für Einheit in Vielfalt brauchen wir vor allem mehr Pluralität und mehr (Ambiguitäts-)Toleranz. Das andere Narrativ betont hingegen: Für Einheit in Vielfalt brauchen wir auch ein unbedingtes Festhalten an den historischen Kernüberzeugungen des christlichen Glaubens.
Es ist deutlich, dass die beiden Persönlichkeiten nicht in dieselbe Richtung tendieren. In welche Richtung soll es in Zukunft gehen? Theologische Vielfalt (bis hin zu theologischer Gleichgültigkeit) selbst im Kern, oder aber ein klares theologisches Kernbekenntnis?
2) Evangelikale Grenzen? Wie inklusiv soll die evangelikale Bewegung werden?
Was momentan für Schlagzeilen sorgt, ist aber weniger das theologische Kerngeschäft. Es sind die ethischen Weichenstellungen der Gesellschaft, die auch in der evangelikalen Welt widerhallen. Evangelikale Denominationen und Institutionen spalten sich weltweit nicht länger wegen theologischer Differenzen, sondern aufgrund der Gender-Ideologie, Umgang mit Homosexualität und vielleicht der kritischen Rassentheorie (in Amerika). Selbstverständlich geht es auch hier um divergierende theologische Positionen, was diese Themen betrifft. Doch sind es eben diese ethischen Themen, die im Brennpunkt stehen und nicht etwa solch theologisch 'veralteten Hüte' wie die Rechtfertigungs- oder die Trinitätslehre. Diese gesellschaftlichen Trends bergen ein gewaltiges Reibungs- und Spaltungspotenzial für die evangelikale Bewegung in sich. Warum? Weil es hier um die aktuell so zentrale Frage geht, ob man mit oder gegen die Entwicklung der Gesellschaft gehen soll.
Für die liberale Richtung des Protestantismus ist die Haltung wesentlich, auf jeden Fall im Kontakt mit der kulturellen Entwicklung der Gesamtgesellschaft zu bleiben. Im Evangelikalen ist es anders: Die Spannungen zu Mehrheitsgesellschaft wird nicht nur in Kauf genommen, sondern immer wieder stark betont, um eine christliche Identität in Abgrenzung zur Welt aufrechterhalten zu können. (Menschen mit Mission, S. 350)
Dabei geht es längst nicht mehr um den Gegensatz zwischen liberalem Protestantismus und den Evangelikalen. Der Graben tut sich auch innerhalb der evangelikalen Bewegung auf, wie man an vielen Stellen beobachten kann.
Es ist diese Frage nach den Grenzen, die so prominent im Raum steht: Wo soll man seine Grenzen setzen? Ich verstehe Grenzen setzen als den Prozess, sich gegenüber Haltungen und Positionen auszusprechen, die man nicht in seine Glaubenswelt integrieren kann: 'Soweit können wir gehen aber weiter nicht, wenn wir unseren Glauben nicht desavouieren wollen'. Diese Grenzpunkte müssen nicht unbedingt zum eigentlichen Bekenntniskern gehören. Sie werden nicht jeden Sonntag laut bekennt. Aber sie sind doch so wichtig, dass man nicht so einfach darüber hinweggehen kann.
Grenzen sind Leitplanken, die davor bewahren von der Strasse abzukommen.
Und dann ist da eben noch diese Frage, die uns bewegt: Sollen wir mit der oder gegen die Zeit gehen? Dietz stellt es so dar, dass vor allem Konservative dieses Mitgehen mit dem Zeitgeist 'als grosse Bedrohung empfinden' und sie sich darum ganz bewusst 'von anderen Gruppierungen der gemeinsamen Gemeindewelt' abgrenzen (S. 443). Sind die Konservativen also 'die Bösen', die doch nun endlich einmal etwas offener und inklusiver werden sollten? Schaden sie durch ihre abgrenzende Haltung nicht dem Zeugnis des (evangelikalen) Glaubens? Liegt es nicht auf der Hand, dass evangelikale Gemeinden alle Menschen gleichermassen und ohne Vorurteile (sprich, ohne ihnen zu widersprechen) aufnehmen müssten? [4]
Gegenteilig sieht es Markus Till. Sexualethisch-konservative Christen sind nicht einfach gegen andere Menschen und ihr (sexuelles) Lebensgefühl. Viele bekenntnisorientierte Christen sind nämlich davon überzeugt, 'dass das Evangelium menschenfreundlichere Positionen bietet als zum Beispiel das Credo der „sexuellen Vielfalt".' Könnte es nicht auch sein, dass die Gesellschaft 'falsch' liegt und die Bibel richtig? Dass sich die Gesellschaft in eine ungute Richtung bewegt, wogegen wir Christen eine frei-machendere Alternative, innerhalb der biblischen Leitplanken, offerieren könnten? Solche Behauptungen sind halt alles andere als politisch korrekt und werden darum meistens gar nicht mehr angehört.
Inklusivität stösst an ihre Grenzen - und zwar für beide Positionen, da keine die andere in ihr Schema inkludieren kann. Entweder setzen wir hier eine klare Grenze oder wir öffnen die Tore weit (und zwar nicht nur für Menschen, die so denken und empfinden, sondern auch für die theologische Möglichkeit, dass sie 'Recht haben' könnten).
Ubi nunc? Von Vielfalt und Einheit
Bekenntnis-Evangelikale sind theologisch verschlossen, wogegen Allianz-Evangelikale theologisch tolerant sind. Stimmt diese Gegenüberstellung so wirklich?
Nachträgliche Anmerkung des Autors: Natürlich sind die Begriffe 'Allianz-Evangelikale' und 'Bekenntnis-Evangelikale' erneut problematische Label. Ich habe sie in diesem Artikel relativ unreflektiert von Thorsten Dietz übernommen. Immerhin bieten sie eine Terminologie, um über die gegensätzlichen Tendenzen zu reden. In Zukunft müsste man bessere Begriffe einführen.Ich verstehe Torsten Dietz so, dass er unter Bekenntnis-evangelikal die Segmente am eher konservativeren Ende des evangelikalen Spektrums meint. Allianz-evangelikal wäre dann eher etwas am progressiveren Ende. In diesem Sinne wende ich die Begriffe hier auch an. Mir ist klar (auch aufgrund verschiedener Rückmeldungen von euch), dass sich eigentlich fast alle Evangelikalen (ausser die fundamentalistischen Fundamentalisten ganz rechts) als Allianz-gesinnt begreifen und dass nicht unbedingt nur der konservativere Teil an einem Bekenntnis festhält. Dies sollte in diesem Artikel schon auch durchdrücken. Kurz, ich bin im Nachhinein nicht glücklich mit der gewählten Terminologie. Da aber dieser Blogartikel schon 'publik' geworden ist, lasse ich sie trotzdem einfach mal so stehen.
Wie Till schreibt, sind auch Bekenntnis-Evangelikale für Vielfalt und für ein Aushalten von (theologischen) Differenzen, die aber nicht den Kern betreffen. Hingegen äussern sich gewisse Allianz-Evangelikale zum Teil ziemlich vehement gegenüber historisch-evangelikalen Positionen, wie der Sühne- und Opfertheologie oder einem Schriftverständnis, das die Bibel als göttlich und unfehlbar (vielleicht sogar irrtumslos?) versteht. Es scheint, als käme die Vielfalt hier doch an klare Grenzen: 'Alles Mögliche, aber bitte nicht diese alten Zöpfe'.
Haben Allianz-Evangelikale denn gar keinen Kern, um den man nicht herumkommt? Und wenn vielleicht keinen Theologischen, so doch einen Ethischen oder Politischen, selbst wenn dieser nicht als Bekenntnis formuliert ist? Merken tut man dies recht schnell, wenn man sich beispielsweise wagt (wenn auch nur ganz leise) in sexualethischen Fragen eine Gegenposition zu vertreten. Oder wenn man die Omnipräsenz des Klimathemas in Frage stellt (ist dies wirklich das Hauptthema der Bibel?). Es scheint manchmal, als wäre dieser Kern genau dort verortet, wo die konservativen Evangelikalen die Grenze ziehen wollen.
Einheit ist ein heikles Thema, das viel mit Gewichtungen zu tun hat. Wenn mir etwas ganz wichtig ist, meiner Frau aber gar nicht, ist Einheit nicht so leicht realisierbar. Entweder schraube ich meine Erwartungen herunter, oder meine Frau kommt mir entgegen. Wenn sie aber total dagegen ist, wird es noch schwieriger. Dann kann 'Einheit' nur entstehen, wenn wir es gut ausdiskutieren und uns wenigstens gegenseitig verstehen und stehen lassen, selbst wenn wir unsere Meinung nicht ändern. Aus Liebe zum anderen werden wir aufeinander Rücksicht nehmen. Aber so richtig in Schwung kommen werden wir bei so einem umstrittenen Thema dann trotzdem nicht.
Wenn ich ein Zwischenfazit ziehen müsste, wäre es momentan dieses: Den Bekenntnis-Evangelikalen ist der theologische Kern, so wie er historisch bezeugt ist, unverzichtbar wichtig. Sie gehen auch grundsätzlich davon aus, dass es möglich ist, einen solchen Kern überhaupt zu benennen. [5] Dass Allianz-Evangelikale diesbezüglich fast agnostisch oder gleichgültig unterwegs sind, andererseits aber doch gewisse traditionelle Kerntheologien bewusst und vehement ablehnen, macht die Bestrebungen nach Einheit nicht einfacher. Es sieht eher danach aus, als würden die progressiven Elemente ihre Kernspaltung vorantreiben, wogegen die konservativen Elemente ihr Kerngeschäft um keinen Preis aufgeben wollen.
Gleichzeitig ist ein Miteinander oder allenfalls sogar ein Nebeneinander in den ethischen Zeitgeist-Themen vielleicht schon von vornherein ausgeschlossen. Für Progressive ist eine Öffnung zur Welt keine Option unter anderen mehr, sondern DAS Gebot der Stunde. Wer da nicht mitzieht, hat sich selbst ins Abseits gespielt. Konservative dagegen können ihre (konservative) Ethik nicht einfach so kübeln. Sie sind zu fest davon überzeugt, dass man gerade in den heutigen Trends dem 'kulturellen Fortschritt' widerstehen muss (wie auch immer man das anpacken will).
Endstation Einheit also?
Soweit einmal die Temperaturmessung. Was schliessen wir daraus für die nähere Zukunft der evangelikalen Bewegung? Ich vermute, dass die Partie ihre Spannung nicht sofort verlieren wird. Vielleicht wird sich die Situation zwischen bekenntnisorientiert und Allianz-gesinnt, zwischen konservativ und progressiv, sogar noch weiter polarisieren (vor allem rund um die sexualethischen Grenzfragen). Vielleicht werden sich die ganz progressiven Elemente sowieso von evangelikal verabschieden. Dies würde den Prozess vereinfachen, dass gemässigte progressive und nicht-länger-fundamentalistisch-konservative Teile wieder näher zusammenspannen könnten (dass die Spielwiese um den Kern herum auch wirklich gross genug sein kann). Dietz fasst die Situation diplomatisch schön zusammen:
Gegenwärtig spricht manches dafür, dass sich unterschiedliche Trends halten werden: Abgrenzung und Dialog, Profilierung und Vernetzung. Langfristig wäre es meine Hoffnung, dass das eine nicht vom anderen zu trennen ist. (Menschen mit Mission, S. 459)
Daneben wird es aber hoffentlich auch zu neuen geistlichen Aufbrüchen kommen, die der Bewegung zu neuem Schwung verhelfen können.
Ein persönliches Plädoyer für eine evangelikale Bewegung, die irgendwie progressiv und trotzdem konservativ sein könnte!
Was würde ich der evangelikalen Bewegung mit auf den Weg geben (wenn ich nur fünf Minuten hätte)? Plädoyer ist vielleicht etwas übertrieben. Sagen wir besser kurze, noch nicht fertig ausgekochte Ideen, die noch vervollständigt werden müssten. [6]
Seid mehr für etwas, als gegen andere! Polemik ist nicht schlecht, an ihrem Platz. Aber eine Bewegung, die vor allem durch ihre Polemik bekannt ist, hat keine eigentliche (positive) Message mehr. Seid zuallererst für das Evangelium, so dass Aussenstehende sagen müssen: Diese Leute sind zwar komisch, aber ihnen liegt schon enorm viel an ihrem Jesus!
Seid klar, für was ihr steht und bleibt trotzdem dialogoffen. Das gilt vielleicht vor allem für euch Bekenntnis-Evangelikale. Wie dialogbereit seid ihr wirklich? Besteht für euch die Möglichkeit, selbst von euren 'Gegnern' etwas zu lernen? Ergeben sich nicht vielleicht aus den Kernanliegen des Gegenübers wichtige Impulse, die bei euch gerne untergehen?
Seid stark im Kern und tolerant darum herum. Gebt verschiedenen Meinungen Raum. Vor allem, reibt euch nicht an den nebensächlichen Stellen gegenseitig auf. Verschwendet eure Energie am richtigen Ort.
Was die Grenzziehung betrifft: Fangt an, eine robustere (evangelikale) soziale Ethik zu entwickeln. Themen wie Rassismus, soziale Gerechtigkeit und die berühmten Sexualthemen müssen regelmässig auf euerm Menüplan erscheinen. Keller meint: 'No Christian can engage in society without a working theory of how biblical doctrine and ethical principles relate to social issues.' Evangelikale haben viel Aufholbedarf. Sie müssen sprachfähiger werden und ihre (Gegen)Position nicht nur polemisch, sondern auch hoffnungsvoll und positiv in eine Welt formulieren können, die an einem komplett anderen Ort steht.
Lebt als Gemeinschaften, die Menschen verschiedener sexueller Couleur lieben und aufnehmen, ohne ihre Weltanschauung gleich mit zu taufen. Liebe und Wahrheit (in gelebten Beziehungen!) müssen sich die Waagschale halten. Die christliche Gemeinschaft war in ihren besten Zeiten immer für den Menschen und für seine Entwicklung hin zu einer grösseren Christusähnlichkeit. Sie war liebend und herausfordernd zugleich.
Die evangelikale Bewegung wird nicht überleben, wenn sie nur pauschal progressiv (für alles Neues und gegen das Alte) oder global konservativ (für das Alte und gegen das Neue) ist. Sie wird nicht fortbestehen, wenn sie nur politisch links oder dann politisch rechts ist. Die christliche Gemeinde war immer schon eine Kategorie sui generis, etwas, dass es so in der Welt nicht gab. Sie zog ihre Grenze immer irgendwie an einem anderen Ort als die weltliche Gesellschaft dies tat. Dies führte manchmal zu Unverständnis, manchmal zu Verfolgung, liess Aussenstehende aber immer staunen. Und sie fokussierte sich auf einen Kern, der nicht von dieser Welt ist, der aber das Potenzial in sich trägt, diese Welt zu einem besseren, ja sogar himmlischen Ort zu machen.
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[1] Danke an Christian Haslebacher für diesen Input.
[2] Aus dem Buch 'Mission Zukunft', herausgegeben von Michael Diener und Ulrich Eggers (S. 225).
[3] Wenn du tiefer in dieses Thema eintauchen möchtest: Ich habe hier mal etwas dazu geschrieben.
[4] David P. Gushee geht soweit zu sagen, dass konservative Evangelikale den Bezug zur (LGBTQ) Realität komplett verloren haben, weil sie an ihrer konservativen Bibelauslegung festhalten. Jeder, der hier noch seine konservative Position begründen möchte, wird von vornherein marginalisiert. Aus dem Buch After Evangelicalism, Seiten 128-129.
[5| Ich habe hier ganz bewusst nicht den Versuch unternommen, einen solchen Kern zu definieren. Für ein ganz aktuelles Beispiel einer solchen Definition siehe diesen neuen Artikel von Timothy Keller.
[6] Ich geb's zu. Auch in diesem kleinen Ausblick bin ich nochmal von Tim Keller inspiriert. Am besten lest ihr grad seinen ganzen Artikel: The Decline and Renewal of the American Church: Part 3 - The Path to Renewal
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