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matt studer

Starb Jesus wegen mir? - Postskript zur gegenwärtigen Lage


Ich komme nicht umhin, noch etwas zu meiner kurzen Serie 'Starb Jesus wegen mir?' anzufügen. Die ganze Reihe kam ja in einem historischen Gewand daher. Im letzten Beitrag der Serie mit dem Titel 'Die Bedeutung des Kreuzes bis in die Gegenwart' stoppte ich abrupt bei Sozinianus, einem Kollegen aus der vergangenen Gegenwart des 16. Jahrhunderts, mit dem sich die allerwenigsten von euch bekannt gemacht haben werden. Klar, die Bewegung des Sozinianismus ist insofern spannend, dass sie einige 'moderne' Einwände gegen die Stellvertretungsperspektive vorwegnahm. Einwände, die man heute in ähnlicher Weise immer wieder von den Dächern pfeifen und aus den Gassen rufen hört. Trotzdem, die Situation ist komplexer und vielseitiger, als dass alle Kritiker des Kreuzes gerade direkt von Sozinianus abstammen würden. Das wäre, als würde ich alle aktuellen, auch gerade die inner-evangelikalen Stimmen, die sich kritisch über die Stellvertretungsperspektive äussern, in die liberale Pfanne hauen. Autsch! Darum, werfen wir abschliessend zu dieser Serie einen kurzen, kartographischen Blick auf die momentane Situation, um einen Überblick zu bekommen, wo wir heute hinsichtlich der Interpretation des Kreuzes stehen.


Nochmals, die Stellvertretungsperspektive besagt, dass Jesus für mich starb, um mich mit Gott zu versöhnen. Er starb wegen mir, wegen meiner Sünde, die mich von Gott trennt. Er starb an meiner Stelle und trug die Strafe, die ich hätte tragen müssen. Das Kreuz sagt mir, dass ich ein Problem mit Gott habe, ein gewaltiges Problem, das ich nicht annähernd selbst lösen könnte. Es gibt keinen anderen Weg zum Vater zu kommen, ausser durch Christus, aufgrund seines Werks am Kreuz.


Die Stellvertretungsperspektive war und ist ein Wahrzeichen evangelikaler Theologie und Spiritualität. Und obwohl wir Lieder wie 'A minre Stell hesch du es Lide uf dich gno' immer noch singen, oder zumindest noch kennen, scheint diese für uns einst so wichtige Wahrheit an manchen Stellen zu erodieren. Wir müssen uns bewusst sein: es geht hier um keine akademische Diskussion, geführt von irgendwelchen Theologen an irgendwelchen Universitäten. Diese Diskussion ist längst auf dem Boden der evangelikalen Realität angekommen - in Gemeinden, unter theologischen Aficionados, an Seminaren und Konferenzen, unter Pastoren - wo sie den Boden umpflügt und neubepflanzt. Natürlich gibt es nach wie vor genügend Verfechter der klassischen Position. Doch werden diese gerne mit dem Etikett 'hoffnungslos konservativ' versehen. Und wer würde heute noch auf 'konservative Biblizisten' hören wollen?


Die Diskussion um das Kreuz ist also in vollem Gange. Ich bin mir bewusst, dass ich mit meiner dreiteiligen Serie keine annähernd erschöpfende und befriedigende Antwort aus Sicht eines 'Konservativen' gegeben habe (ja, die Konservativen schreiben auch Blogs!). Das war mehr so etwas wie ein 'Müsterli' - weitere Müsterlis werden folgen. Denn ich bin nach wie vor überzeugt, dass wir diesen Schatz nicht aufgeben dürfen, es sei denn wir landen bei einem ganz anderen Christentum.


Die Kritik an der Stellvertretungsperspektive ist vielschichtig. Ist diese Perspektive nicht letztlich ein Produkt menschlicher Kultur, entstanden in einem Umfeld, das soviel/zuviel Gewicht auf moralische Schuld legte? Oder entstammt sie gar einer Kultur, in der es ganz einfach an der Tagesordnung war, einer Gottheit zu opfern, um sie zu besänftigen? Sind wir nicht heute längstens emanzipiert von solchen Vorstellungen und Praktiken? Es gibt einige, die zum Schluss kommen, dass die ganze Vorstellung von Opfer, Blut und Tod für unsere heutige Welt vollkommen unverständlich und eigentlich unhaltbar geworden ist. Sollten wir nicht vielmehr Jesu Nachricht von Frieden und Liebe betonen? Hat nicht gerade die Stellvertretungslehre manchmal sogar Gewalt und Oppression legitimiert, oder zumindest zu einem passiven Erdulden von Ungerechtigkeit beigetragen? Um als Christen eine Stimme in dieser Welt zu sein, die gehört wird, müssten wir doch eine andere, bessere und optimistischere Botschaft predigen.


Manche beanstanden, dass diese Botschaft viel zu individualistisch klingt. Geht es beim Kreuz wirklich so sehr um das einzelne Individuum vor Gott? Geht es darum, dass jeder einzelne Mensch ein Problem hat mit Gott, das nur durch das Kreuz adressiert werden kann? Viele, die bejahen, dass es im Christenleben (auch) um eine Beziehung des einzelnen Menschen mit Gott geht, tun sich schwer damit zu glauben, dass diese Beziehung nur durch einen Stellvertretungstod ermöglicht werden sollte. Kann Gott nicht einfach vergeben? Es geht doch um Wiederherstellung von Beziehung und nicht um Strafe? Wir sollten doch einfach weniger über den Tod Jesu reden, sondern mehr über sein Leben und seine Auferstehung. Man wirft den Konservativen vor, dass sie so vom Sterben Jesu besessen seien, dass sie keinen Platz für das Leben Jesu in ihrer Theologe mehr übrig haben.


Andere bekunden Mühe mit dem 'traditionellen' Gottesbild der Evangelikalen. Kann die Liebe Gottes mit dem Zorn Gottes harmonisiert werden? Oder sollten wir nicht vielmehr einfach die Liebe betonen und den Zorn weglassen? Ok, wir begegnen manchmal einem zornigen und richtenden Gott im Alten Testament. Aber Gott hat sich doch in Christus ganz anders offenbart. Und wenn Jesus wirklich unsere Strafe auf sich nehmen musste, was für ein Bild gibt uns das vom himmlischen Vater, der seinen eigenen Sohn straft?


Haben diese kritischen Stimmen auch etwas Positives über das Kreuz zu verlauten? Für was steht das Kreuz denn im positiven Sinn? Was hat es bewirkt? Warum starb Jesus am Kreuz, wenn er nicht für mich und wegen mir starb? Es ist spannend! Was tut man, wenn die Stellvertretungsperspektive in Verruf gerät? Man legt Christus Victor neu auf. Das Kreuz steht für Sieg - Sieg über die bösen Mächte, Sieg über die Ungerechtigkeiten dieser Welt, Befreiung von Unterdrückung, Befreiung von Armut. Weg vom Fokus 'Ich und mein Gott', möchte man sich nun dieser Welt zuwenden. Der Tod Jesu bringt den Sieg über das Böse in der Welt. Und die Christen werden dazu befähigt, in diese Welt zu gehen, um das Königreich Gottes in der Auferstehungskraft Jesu aufzurichten, für Gerechtigkeit und Frieden einzutreten, den Armen beizustehen, den Schwachen unter die Arme zu greifen.


Wem das zu triumphalistisch erscheint, wird vielleicht mit einer neuen Variante der moralischen Perspektive des Kreuzes glücklicher. Wir sehen im Kreuz einen Jesus, der solidarisch mit allen Unterdrückten, Benachteiligten, Armen und ungerecht Behandelten leidet. Ja, Jesu solidarisierte sich am Kreuz mit dem Leiden dieser Welt. Er schreckte nicht davor zurück. Er machte sich nicht unverwundbar. Er erniedrigte sich bis zum Kreuz. Dies befähigt auch uns mitzuleiden und Anteil zu nehmen an den Nöten anderer Menschen und der Schöpfung.


Bitte, ich meine das nicht ironisch. Ich gewinne beiden Perspektiven viel ab und sehe die biblische Wahrheit darin! Aber es ist doch schon verrückt, wie man auf die eine oder andere Weise nach Möglichkeiten sucht, um die Stellvertretungsperspektive zu umgehen oder ganz beiseite zu legen. Und ich meine zu beobachten, dass dies im Endeffekt mehr Unsicherheiten und Schwierigkeiten kreiert, als wenn man sich darum bemühen würde, alle drei Perspektiven gemeinsam zu vereinen. Das Geschehen am Kreuz hat mindestens so viele Schichten wie eine Zwiebel. Wobei es darum zu ringen gilt, was der Kern dieser Zwiebel ist, um den sich die anderen Schichten bilden. Wenn wir wie Paulus das Kreuz und keine menschliche Weisheit predigen wollen, müssen wir uns wieder mehr im Klaren darüber sein, was das Kreuz in seiner Mehrdimensionalität bedeutet, auch wenn gewisse Aspekte davon für uns heute unbequem geworden sind. Vielleicht liegt ja gerade hinter diesen Unbequemlichkeiten eine Freiheit und Lebensfülle verborgen, die wir dringend brauchen ...







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