Es scheint sie einst gegeben zu haben, die perfekte Verständigung durch Sprache. 'Sieh, alle sind ein Volk und haben eine Sprache ... Nun wird ihnen nichts mehr unmöglich sein, was immer sie sich zu tun vornehmen.' (1 Mose 11,6) So schaute es aus, als die Menschen damals begannen, den Turm von Babel zu bauen. Doch dann: 'Auf, lasst uns hinabsteigen und dort ihre Sprache verwirren, dass keiner mehr die Sprache des andern versteht.' (Vers 7) Die Verständigung unterbrochen, die Kommunikation erschwert. Das Schöne dabei ist, dass wir dank diesem Vorfall heute so viele verschiedene Sprachen und Kulturen haben und geniessen dürfen. Stell dir vor es gäbe nur eine Sprache, eine Küche, einen Musikstil.
Schon sind wir mitten im Thema drin, nämlich, wie die Bibel verstanden werden kann. Im letzten Beitrag lag der Fokus mehr auf der Bibel selbst, ihrem Wesen, ihrer Art. Dabei kam das meines Erachtens fast grössere Problem noch zu wenig zur Geltung: Wie in aller Welt können wir von Wahrheit reden, wenn wir keinen, oder nur einen sehr erschwerten Zugang dazu haben, wie heute allgemein angenommen wird? In anderen Worten, es geht hier um die Interpretation der Bibel, die nach Babel zu tausendundeiner Auslegung und zu tausendundkeiner Gewissheit geführt hat. Oder etwa nicht?
Post-Evangelikale und die Interpretation der Bibel
Was ist eigentlich das Problem? Gemäss meinem beliebtesten Gesprächspartner zum Thema, Martin Benz, dass Evangelikale die Wahrheit mit ihrer eigenen Überzeugung, die Wirklichkeit mit der Realität, und den eigenen, begrenzten Standpunkt mit der absoluten Sicht Gottes verwechseln. [1] Dabei muss doch nach über 2000 Jahren babylonischer Sprachverwirrung klar geworden sein, dass die eigene Auslegung eben eines ist, die Eigene! Jeder Mensch nimmt (s)einen subjektiven Standpunkt im Universum ein, von dem aus er die Welt beurteilt und die Texte der Bibel interpretiert und anwendet. Es gibt nur subjektive 'Wahrheit' für uns Menschen, keine absolute, erschöpfende Wahrheit! Benz möchte aus diesem Grund lieber von 'Überzeugungen' als von Wahrheit sprechen. 'Nach meiner festen Überzeugung verhält es sich so und so' tönt doch viel freundlicher und weniger gefährlich, als 'das ist die Wahrheit und ICH habe sie erkannt!'
Hinzu kommt wie angetönt das Problem der Sprache im Verständigungsprozess. Babel, Gebabbel, Babaorum. [2] Wieso ist Sprache eigentlich ein Problem? Weil Sprache die Realität immer schon filtert. Wie Martin Benz meint, ist Sprache keine genaue Abbildung der Realität, so wie ein Foto es wäre. Es ist mehr so, wie wenn ein Maler ein Bild von der Wirklichkeit malt und dieses Bild durch seinen Pinselstrich mitgeprägt wird.
Die Bibel ist nicht das Fotoalbum der Wahrheit Gottes, sondern eine Galerie mit ganz vielen Zeichnungen der Wahrheit, aber keine exakte Darstellung der Wahrheit.
Sind Post-Evangelikale also postmodern? Nein, meint Benz. Denn auch sie sagen, dass es eine "letztgültige, ultimative Wahrheit" gibt. Aber diese Wahrheit bleibt "unantastbar bei Gott". Wir haben keinen (direkten) Zugang zu ihr. Wir bleiben immer auf der Ebene unserer Überzeugungen. Und dann ist es ja auch nicht so, dass Gott "seine Wahrheit in eine Schatztruhe gepackt hat" und hin und wieder ein Goldstückchen herausnimmt und es den wahrheitshungrigen Menschen hinwirft. Weniger gilt, 'Gott hat die Wahrheit', denn 'Gott ist die Wahrheit'. "Je mehr du mit Jesus unterwegs bist, desto kongruenter werden deine Überzeugungen mit denen von Jesus." Wahrheit hier ist weniger faktisch, kognitiv systematisch und 'griechisch', sondern vielmehr personal, lebenspraktisch, poetisch und 'hebräisch'.
Doch dann sind Post-Evangelikale schon auch postmodern. Nämlich, weil sie dieselbe allergische Reaktion auf 'Besitzansprüche der Wahrheit' (ein Hobby der Evangelikalen?) bekommen. Gemäss post-evangelikaler Kritik wird Wahrheit bei den Evangelikalen zu sehr mit Eindeutigkeit, Klarheit und Endgültigkeit gleichgesetzt. Aber aufgepasst, immer wenn Wahrheit so absolut verstanden wird, lauert inquisitorische Gewalt hinter dem nächsten Busch. Die Logik geht etwa in diese Richtung: Wer im Besitz der Wahrheit ist, hat auch die Macht auf seiner Seite (zumindest war das historisch so). Und er wird seine Macht instrumentalisieren, um andere dazu zu bringen zu glauben, was er glaubt. Da bleibt kein Platz für abweichende Überzeugungen. Und auch kein Stimulus mehr, Neues oder Anderes zu lernen. Denn wer im Besitz der Wahrheit ist, hat ausgelernt. Er weiss es ja bereits.
Wie interpretieren Post-Evangelikale also die Bibel? Sie ziehen keine Wahrheitsfetzen heraus. Sie deduzieren nicht zeitlos gültige Gesetze aus den historisch befleckten Seiten der Bibel. Sie wollen Gottes Wahrheit nicht erschöpfen. Vielmehr wollen sie allzeit bereit sein Neues zu lernen (nicht nur von der Bibel, sondern auch von anderen Menschen und vielleicht sogar anderen Religionen). Sie wollen das, was sie als relevant und gut erkannt haben ins praktische Leben übersetzen. Sie wollen Inspiration. Zusammengefasst, Post-Evangelikale wollen nicht unbedingt wissen, wie es objektiv richtig wäre, sondern wie es dich persönlich anspricht und überführt, wie es deinen Glauben inspiriert, oder einfach, dass es den Dialog anstösst. Post-Evangelikale haben die Wahrheit nicht in der Tasche. Sie sind auf einem Weg, auf dem sie immer neue Blumen und Insekten am Wegrand entdecken, die ihnen neue Einsichten in das Leben mit Gott enthüllen. Sie wollen nicht stehen bleiben. Dabei muss das, was sie heute geglaubt und gedacht haben, morgen nicht unbedingt immer noch von gleicher Bedeutung oder sogar gleich 'wahr' sein.
Evangelikale und Bibelinterpretation
Evangelikale sind viel optimistischer, dass sie verstehen können, was Gott ihnen durch die Bibel sagen will. Babel hin oder her, es ist klar, dass Gott hier redet. Und wenn er redet, dann doch so, dass er verstanden werden will. Vielleicht eher Babygebrabbel? So formulierte es jedenfalls der Theologe Jean Calvin: Gott spricht mit uns Menschen im Babydialekt, um sich uns anzupassen, damit wir auch ja mitbekommen, was er uns sagen möchte. Historisch war das Konzept der 'Klarheit der Schrift' von Bedeutung. Darunter verstand man, dass die Botschaft der Bibel im Kern klar ist und auch klar verstanden werden kann. Das heisst nicht, dass sich alles in der Bibel gleichsam simpel und klar erschliesst. Doch ging man davon aus, dass wenn man sich von diesem klaren Kern aus vorarbeitet, am Ende sogar etwas von diesem Licht auf die kryptischeren Stellen fällt. Auf jeden Fall verstand man die Message der Bibel als einheitlich und im Groben auch als allgemein verständlich. Früher formulierte man Bekenntnisse, die diesen Kern der Bibel für alle verbindlich zusammenfassten.
Ich bin mir nicht ganz sicher, wie sehr sich dies im heutigen Evangelikalismus gehalten hat. Wir sind mit unserem Glauben doch sehr fest ins Private abgedrängt worden oder abgedriftet (das Persönliche war den Evangelikalen schon immer wichtig). Mein Glaube, meine Wahrheit, meine Erkenntnis, die vor allem für mich gilt! Das mag zusätzlich mit gewissen anti-intellektuellen Tendenzen zu tun haben, die sich bei uns immer wieder mal eingeschlichen haben. All dies hat dazu geführt, dass Evangelikale die Bibel individualistischer und pragmatischer lesen. Kein absoluter Wahrheitsanspruch für alle, sondern was 'mir etwas bringt, was 'für mich funktioniert'.
Trotzdem ist dann das, was sie aus der Bibel deduzieren Gottes Wahrheit, wenn auch eine persönliche 'Wahrheit für mich' (es ist also auf eine gewisse Art mehr als persönliche Überzeugung). Darum bleibe ich dabei: Evangelikale haben den skeptischen Turn ihrer post-evangelikalen Geschwister nicht in derselben Weise mitgemacht. Sie befinden sich ideell noch näher beim Selbstverständnis ihrer ehemaligen Gallionsfigur Billy Graham: 'The Bible says!' Also hört nur hin und begreift! Denn die Bibel sagt es klipp und klar.
Wie beide Seiten voneinander lernen könnten
Bibelinterpretation steckt in einer Krise (nicht nur im evangelikalen Bereich). Evangelikale täten gut daran auf die Kritik ihrer post-evangelikalen Geschwister zu hören, natürlich ohne alles zollfrei zu übernehmen. Bei folgenden Punkten sollten wir genauer hinhören:
Evangelikale wissen es manchmal zu definitiv und zu haargenau. Sie sind die Bibelpolizisten vom Dienst. Das ist ein heikles Thema, denn gewisse Dinge sollten wir (gerade in der heutigen) Zeit genau wissen und mit Überzeugung bekennen. Das Problem entsteht dann, wenn wir nicht länger lern- und veränderungsbereit sind, sondern auf unseren vorgespurten Interpretationsstrassen nur noch tiefer einfahren. Das soll keine Einladung zu einem interpretatorischen Jahrmarkt der tausend möglichen Auslegungen sein, sondern ein Ruf zum hörenden Dialog. Evangelikale sollten bereit sein, sogar von denen zu lernen, mit denen sie nicht übereinstimmen, ohne dabei ins Relativistische abzudriften.
Der erste Punkt sollte konsequenterweise zum Zweiten führen, nämlich zu einer hermeneutischen Demut. Einerseits sollten Evangelikale sich ihrer Grenzen stets bewusst sein. Jede Erkenntnis, selbst die Richtige, lebt mit ihren Begrenzungen. Auch das heisst nicht, dass wir gar nichts richtig erkennen können, so doch auf keinen Fall erschöpfend. Andererseits sollte uns Demut in diesen Dingen davor bewahren mit totalitären oder auch nur unterschwelligen Machtansprüchen an andere heranzutreten und sie zu irgendetwas zu zwingen (funktioniert sowieso nicht!).
Evangelikale sollten ihr Spektrum des Wahrheitsbegriffs etwas ausweiten. Denn Wahrheit ist mehr (aber nicht weniger) als ein Denksystem. Sie ist lebenspraktisch und personal. Sie muss erfahren, nicht nur gedacht werden. Wir müssen unser Leben existenziell auf ihr abstellen, damit wir wirklich wissen, was sie bedeutet und dass sie trägt. Wahrheit ist also nicht nur objektive Wahrheit. Sie muss subjektiv und durch das Wirken des Geistes auch zu 'unserer' Wahrheit werden (wohlgemerkt stimmen objektive und subjektive Wahrheit in ihrer Schnittmenge dann miteinander überein). Gottes Wahrheit ist auch nur in einer Beziehung mit ihm zu haben und zu verstehen. Sie ist kein unpersönliches, digitales System. Evangelikale sollten also mehr Wert auf eine Wahrheit eingebettet in Beziehung, Nachfolge und christlicher Gemeinschaft legen. Die Gemeinschaft funktioniert als Thermometer, das die persönliche Wahrheitstemperatur messen und allenfalls auch korrigieren kann.
So wichtig es ist, in unserer Zeit für die Klarheit der Schrift einzustehen, so sollten Evangelikale dennoch auch für die Unklarheit der Schrift einen Platz übrig haben. Historisch unterschied man gewöhnlich zwischen den zentralen, klar offenbarten, oder prominentesten Lehren der Bibel (wie die Rechtfertigung durch den Glauben, das stellvertretende Sühneopfer Jesu, ... Ok, heute werden gerade diese einstmals 'klaren' Stellen anders interpretiert, was zum trüben Unklar-Mix beiträgt) und den Randthemen, auch Adiaphora genannt (z. B. wer die Nephilim aus 1 Mose 6,4 sind, oder ob es wichtig und richtig ist, dass wir vor der grossen Trübsalszeit entrückt werden). Wenn ich von der Trübsalszeit rede, muss ich doch noch eine Bemerkung loswerden. Es gibt im Evangelikalen eine starke Unterströmung, die man auch als 'Fundamentalismus' bezeichnet (siehe dazu Tim Keller's Artikel). Und eine negative Spezialität dieser Unterströmung ist eben, dass sie sich notorisch auf biblische Nebenschauplätze einschiesst (natürlich nicht gemäss ihrem Selbstverständnis). Damit meine ich, dass man Spezialthemen zu einer dogmatischen Alarmstufe 10 erklärt. Themen, die historisch und auch aktuell nie diesen Stellenwert hatten. Eine Spezialisierung dieser Art erschwert den eh schon schwierigen Dialog und rückt die evangelikale Bewegung noch stärker in die Ecke der Freaks.
Soweit was die Evangelikalen betrifft (und es gäbe sicher weitere Punkte zu ergänzen). Wo aber sollten Post-Evangelikale ihre Ohren spitzen und sich hinterfragen?
Post-Evangelikale mahnen: 'Finger weg von der Wahrheit! Die Wahrheit ist nicht etwas, das man in Blei giessen und in systematischen Theologien festhalten kann.' Dabei scheinen sie es bei gewissen Themen aber doch recht genau zu wissen (vor allem wissen sie manchmal ziemlich klar, wie man es nicht mehr machen oder nicht mehr glauben sollte). So nobel es klingt, von Überzeugungen anstatt von Wahrheit zu reden, kommt der Mensch ohne Wahrheit überhaupt aus? Oder hat nicht jeder Mensch, ob Christ oder Atheist eine lieb gewonnene Wahrheit, auf der er sein Leben existenziell aufbaut und die er auf keinen Fall mehr hergeben möchte? Welche 'Wahrheiten' sind für Post-Evangelikale unaufgebbar?
Die Bibel selbst hat nicht so ein Problem mit objektiver Wahrheit, im Sinne von für alle verständliche und verbindliche Wahrheit. Der Bibel und ihren Autoren geht es im Allgemeinen um die Wahrheit und nicht um diese und jene Überzeugung (mehr dazu hier). Wie gehen Post-Evangelikale mit diesem biblischen Selbstanspruch um?
Führt Wahrheit zwangsläufig zu Machtmissbrauch? Wenn man in den Annalen der Kirchengeschichte herumblättert, so findet man klerikalen Machtmissbrauch in gewissen Zeitperioden auf fast jeder Seite. Der Kirchenapparatus verfolgte alle, die häretische Lehrmeinungen propagierten, zum Teil bis zum Scheiterhaufen. Ob man diese Dynamik allein auf einen absoluten Wahrheitsanspruch schieben kann, bleibt für mich aber fragwürdig. Es könnte ja auch genau umgekehrt gelaufen sein: Weil die Kirchenoberen ihre Macht bewahren wollten, benutzten sie 'Wahrheit' als Instrument, um ihre Untergebenen in Schach zu halten. Zurück zur Frage, ob Wahrheit immer zu Machtmissbrauch führt. Derjenige, dem alle Macht im Himmel und auf Erden gegeben sind und der von Gott gekommen ist, um Gottes Wahrheit in aller Autorität zu offenbaren, hat seine Macht nicht zu seinem Vorteil ausgenutzt. Das müsste uns zu denken geben. Ich kenne auch Christen, die absolut von der Wahrheit überzeugt und eingenommen sind und die gleichzeitig die demütigsten Menschen sind, die man sich vorstellen kann. Für sie ist Wahrheit nicht etwas, dass sie anderen überstülpen oder etwas, dass sie aggressiv nach aussen verteidigen müssen.
Post-Evangelikale sollten sich auch hinterfragen, ob sie nicht zu radikal von einem dogmatischen zu einem mystisch-personalen Wahrheitsverständnis schwenken, bei dem Wahrheit zu einer mystischen Erfahrung des Unaussprechlichen wird. Muss Dogmatik und Mystik sich zwangsweise gegenseitig ausschliessen? Hat die Bibel Platz für beides, für Stories als auch für Gesetzestexte (und für Stories, die Teil von Gesetzestexten sind), für poetische Texte neben lehrhaften Texten (und für lehrhafte Elemente in poetischen Texten), für Gleichnisse und historische Berichte, die wahr sein wollen? Könnte es sein, dass Post-Evangelikale, was die verschiedenen Genres der Bibel betrifft, selber zu einseitig und zu dogmatisch in eine Richtung denken?
Eine öffentliche Wahrheit?
Es scheint so, dass man mit Post-Evangelikalen nicht mehr länger über die wahre Wahrheit verhandeln kann. So bemerkt Markus Till in einem Beitrag dazu;
Im Rahmen des progressiven Bibelverständnisses ist eine kritische Auseinandersetzung mit falscher Lehre kaum möglich. Stattdessen werden Glaubensüberzeugungen eher “subjektiviert”, das heißt sie gelten nicht mehr objektiv für alle Gläubigen (so wie es Christen bislang in Glaubensbekenntnissen zum Ausdruck gebracht haben) sondern nur noch subjektiv für denjenigen, der eine Wahrheit für sich als Gottes Wort empfindet. Damit fehlt der Einheit in Gemeinden, Gemeinschaften und Kirchen schon bald das Fundament von gemeinsam geteilten Glaubensüberzeugungen. Entsprechend schwindet das gemeinsame Engagement.
Ich finde er hat Recht. Nur kommt bei mir gerade sofort die Frage auf: Wo ist genau der Unterschied zum Alltagsevangelikalen? Der Alltagsevangelikale glaubt seine Wahrheit genau so subjektiv und im privaten Stüblein (im Gegensatz vielleicht zum theologisch-gelehrten Evangelikalen, den man im öffentlichen Diskurs antrifft). Klar denkt er vielleicht insgeheim, dass seine Wahrheit auch für alle anderen richtig wäre. Aber das würde er nie so zum Ausdruck bringen. Die Betonung des persönlichen Glaubens gehörte, wie schon erwähnt, seit Beginn zum Inventar der evangelikalen Bewegung. Dieser Impuls nach innen wurde durch die aufkommende Säkularisierung der Gesellschaft noch verstärkt. Glaube und Religion wurden ins Private abgeschoben. Eine krasse Individualisierung der Gesellschaft (das einzelne Individuum gilt als der wichtigste Baustein der Gesellschaft) war die Folge davon. Ist es unter den Umständen verwunderlich, dass Wahrheit heute vor allem noch subjektiv und individualistisch verstanden wird?
Was beide Seiten des grossen Grabens letztlich verloren haben ist das, was Lesslie Newbigin als 'public truth' bezeichnete. Das Evangelium war für die Apostel eine öffentliche Wahrheit, die man der ganzen Welt, von Jerusalem über Samaria bis, von Rom bis Rio zu verkündigen hatte. Diese Wahrheit des Evangeliums war nicht einfach etwas für deinen Fundus an Ideen, oder eine weitere Inspiration neben Eckhart Tolle oder Sadhguru Jaggi Vasudev. Sie war und bleibt die partikulare Wahrheit Gottes an dich, mich und die ganze Welt da draussen. Vielleicht müssten wir uns, egal ob post-evangelikal oder evangelikal, diesem Öffentlichkeits-Charakter des Evangeliums erneut stellen und damit zu ringen beginnen, was das für uns heute heisst.
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[1] Ich beziehe mich hier auf alle drei Folgen seines Movecasts: 'Was glaubt man, wenn man postevangelikal ist: Wahrheitsverständnis' (siehe hier).
[2] Als totaler Asterixfan entging mir lange Zeit die Bedeutung dieses Namens, den eines der befestigten Römerlager rund um das gallische Dorf trägt. Er leitet sich nämlich von der französischen Nachspeise Baba au rhum ab, einem mit Rum getränkten Hefekuchen. Sprach- und Verständnisschwierigkeiten bis in die kulinarischen Kochstuben also.
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