Let’s be clear: Progressive Christianity is just Christianity. We are Christians—and we are progressing in our knowledge and understanding.
The generations who come after us will face the task of advancing this [our] journey the next ten steps, taking what we have offered as a trail guide, not a stopping point. They will be called - just as Christians have always been - to recognize their context and reimagine their faith.
(Doug Pagitt, A Christianity Worth Believing, S. 50)
Controversy in religion is a hateful thing ... But there is one thing which is even worse than controversy, and that is false doctrine, allowed, and permitted without protest.
(J. C. Ryle:quoted in Ian Murray, Evangelicalism Divided, 141)
Ich gebe es zu. Der Titel dieses Blogs ist etwas provokant. Man wird mir vorwerfen, dass ich eine doch recht breite Strömung von Menschen, die den traditionell-evangelikalen Glauben mehr oder weniger hinterfragen und dabei ihre je persönliche Geschichte mit Jesus mitbringen, in einen Topf werfe. Ich will niemanden in eine Box zwängen. Deshalb urteile jeder selber, wo er sich auf dem (theologischen) Spektrum einordnen möchte. Zweitens könnte man einwenden, dass es noch zu früh ist darüber zu elaborieren, was post-evangelikaler Glaube überhaupt beinhaltet. Natürlich ist die post-evangelikale Strömung noch in Bewegung. Manches wir hinterfragt und Neues erst angedacht. Und trotzdem glaube ich, dass schon gewisse Konturen vorhanden sind - selbst wenn wir nur sagen könnten, von welchen theologischen Verständnissen der Post-Evangelikalismus sich heute abgrenzen will.
Der Untertitel dieses Blogbeitrags nenne ich 'ein Zwischenfazit'. Wohin bewegen sich die progressiven, post-evangelikalen Christen hinsichtlich ihrer Theologie, dem Inhalt ihres progressiven Glaubens? Wo genau dürfen wir den Ort, an dem sie theologisch landen (oder hinzielen) auf der christlich-evangelikalen Landkarte einordnen? Ist dieser Ort noch verwandt mit evangelikal? Oder mit christlich? Haben sich im progressiven Glauben nur gewisse oberflächlichen Akzente verschoben, oder wurden gar die Glaubensgrundlagen ausgetauscht? In anderen Worten, ich will hier so gut es geht (und ohne gerade ein Buch zu schreiben) das Feld abstecken. Dies nicht einfach willkürlich, sondern anhand solcher Kriterieren, wie ich sie in meinem letzten Beitrag 'Wenn Lehre uns trennt' formuliert habe.
Glaube in Bewegung
In einem aktuellen Diskussionspapier zur 'Streitfrage Postevangelikalismus' des Bundes Evangelischer Täufergemeinden, auf das ich mich in diesem Blogartikel öfters beziehen werde, lesen wir:
Wahrscheinlich geht es im Kern bei der Diskussion um den Postevangelikalismus weniger um «richtig Glauben» oder das «korrekte Bibelverständnis», sondern vielmehr um ein Christentum, das relevant, lebensnah und nachvollziehbar ist ... Postevangelikale sind vielleicht mehr ein Symptom des Problems, als das Problem selbst. Das Problem wäre vielleicht eher, dass sich gewisse evangelikale Glaubensinhalte als kontextuelle, zeitgebundene Auslegung entpuppen statt als zeitlose, kontextuell unabhängige biblische Wahrheit.
Vielleicht offenbart der Postevangelikalismus unsere konservierende Unbeweglichkeit, dort wo wir an den alten Zöpfen festhalten, die man längst hätte abschneiden sollen? Christlicher Glaube ist doch immer in Bewegung. Der christliche Glaube hat sich in seiner über zweitausendjährigen Geschichte immer wieder gewandelt, oder etwa nicht?
Mich erinnert das Ganze an ein 'Gleichnis', das Brian McLaren in seinem Buch A Generous Orthodoxy erzählt. [1] Die Geschichte beginnt damit, dass zwei Gruppen mit ihrem Kanu einen Fluss befahren. Beide Gruppen sollen Nahrung und Medizin zu einem Dorf fernab bringen, das von der Aussenwelt abgeschieden ist. Als man weiter unten an gefährliche Wasserschnellen stösst, entschliesst sich die eine Gruppe, etwas von ihrem Ballast über Bord zu werfen, um so besser durch diese Schnellen hindurch zu kommen, während die andere Gruppe das Kanu aus dem Wasser hebt und die Strecke zu Fuss marschiert. Der Punkt, den McLaren hier herüberbringen will ist, dass beide Gruppen letztlich dasselbe Ziel haben, nur unterwegs unterschiedliche Entscheidungen treffen. Keine Entscheidung ist hier besser oder fälscher, weil der Weg und das Ziel ja gleichbleiben. Die eine Gruppe konserviert und verliert dadurch an Tempo, die andere wirft etwas vom Inhalt über Bord und ist dadurch schneller am Ziel, wobei nicht mehr mit allem Gepäck. Der 'progressive' Theologe Randal Rauser sieht den Hauptpunkt darin, dass das Gleichnis ...
eine vereinfachte, binäre Denkweise zwischen den Guten mit ihren guten Absichten, die getreu konservieren, und den Bösen mit schlechten Absichten, die böswillig transformieren, dekonstruiert. Stattdessen erkennt es an, dass wir uns alle auf dem gleichen Fluss befinden und an verschiedenen Punkten Entscheidungen darüber treffen müssen, was wir behalten und was wir wegwerfen oder austauschen wollen. (Rauser, Progressive Christians Love Jesus Too, S. 54)
Das tönt zunächst einmal ganz gut und richtig. Wir wollen ja niemandem böse Absichten unterstellen oder gar den Glauben absprechen ('Dein Kanu fährt nicht auf dem richtigen Fluss!'). Auf der anderen Seite ist Rauser's Statement irreführend. Es geht uns hier nicht darum, irgendwelche verborgenen Absichten zu entlarven, sondern darum zu zeigen, was für eine Theologie propagiert wird. Und dann kommt es schon sehr darauf an, was für 'überflüssiges' Gepäck man über Bord wirft. Wenn sich die eine Gruppe jetzt gerade der Medizin entledigt hätte, die das Dorf so dringend braucht? Es mag sein, dass unter dem Gepäck gewisse 'kontextuelle, zeitbedingte Auslegungen' mit dabei sind, die das Kanu nur unnötig verlangsamen. Doch müssen wir genau hinschauen.
Biblische Lehre in Bewegung?
Aus der progressiven Küche tönt es häufig so, als ob sich die christlich-biblische Lehre auch weiterentwickeln und immer neuen Kontexten 'anpassen' müsse. Es kann ja nicht sein, dass der Inhalt des christlichen Glaubens völlig statisch ist und immer gleich bleibt. Es stimmt natürlich, dass gewisse theologische Themen über die Zeit weiterbearbeitet und neu formuliert wurden. Häufig geschah dies in Krisenmomenten, als die biblische Lehre angefochten wurde. Die Krise löste aus, dass man sich dem Thema konzentriert widmete, dass man tiefer schürfte als je zuvor. Weiterentwicklung in dem Sinne heisst jedoch nicht, dass man von einem Apfel ausgehend am Schluss bei einer Birne landete. Vielmehr meint es, dass man weitere und neue Erkenntnis über den Apfel gewann. Der Historiker Kenneth Stewart formuliert es so:
Im Laufe der Zeit ist das christliche Verständnis [eines Themas] gereift und es kam zu einer allmählichen Klärung dessen, was die ganze Zeit vielleicht nur implizit vertreten wurde. Es gab also eine Entwicklung in dem Sinne, dass die Kirche sich in den Themen, die in der Schrift und der frühkirchlichen Traidition hochgehalten werden, von weniger zu mehr Klarheit vorgearbeitet hat. (In Search of Ancient Roots: The Christian Past and the Evangelical Identity Crisis, S. 59, meine Übersetzung) [2]
Was ist dann aber mit dem reformatorischen Grundsatz ecclesia semper reformanda - die Kirche muss sich ständig reformieren? Also, die Kirche (inklusive ihrer Theologie) soll nicht stehen bleiben, damit sie nicht verknöchert? Es ist schon mal interessant, dass die 'Progressiven' und die 'Konservativen' diesen Satz ganz anders verstehen. Auf der einen (konservativen) Seite wird dieser Imperativ so verstanden, dass die Kirche immer wieder zu ihren Grundsätzen, wie die Schrift sie vorgibt, zurückkehren soll. Man geht davon aus, dass die Kirche die Tendenz hat, immer wieder von ihrem Ursprungsort wegzuwandern und dabei ihre Identität zu verlieren. 'Back to the roots' wäre der richtige Begriff. Zurück zu dem Glauben, der uns ein für allemal überliefert wurde (siehe im Judasbrief 1,3). Die andere (progressive) Seite sieht ihre Aufgabe eher darin, den Glauben innovativ in unsere Zeit hinein zu transformieren und ihn auf diese Weise zu 'bewahren' (Back to the future?). Wie Peter Enns es formuliert: 'Wir führen Neuerungen ein, gerade um den Glauben zu bewahren.' (zitiert in Randal Rauser, S. 48). Nur eben, was für Neuerungen? Und stehen diese Innovationen nachweislich in Kontinuität mit dem historischen, biblischen Glauben der Kirche,so dass dieser bewahrt wird, oder offerieren sie etwas ganz Neues?
Und was wenn sich die Postevangelikalen dann doch zu weit entfernen?
Es ist mittlerweile klar, dass die reformistischen [progressiven-post] Evangelikalen nicht wirklich eine Reformierung des Evangelikalismus als einer Bewegung mit einer bewussten Kontinuität mit der klassischen christlichen Tradition fordern. Zumindest einige von ihnen fordern die Preisgabe der theologischen Grundlagen, auf denen die evangelikale Tradition aufbaut. (Albert Mohler, in Five Views of the Spectrum of Evangelicalism, 88)
Das ist ein starkes Statement von Mohler, das immerhin durch das 'zumindest einige von ihnen' eingegrenzt wird. Etwas anders interpretiert es das Diskussionspapier der Täufer:
De[n] Evangelikalismus eint ... die Abgrenzung zum Liberalismus. Könnte es deshalb sein ... dass hier die grösste Angst Evangelikaler Vertreteter liegt, dass der Postevangelikalismus die ehemaligen hart errungenen Grenzziehungen aufweicht oder gar übertritt?
Man könnte die Situation erneut mit dem Kanu-Gleichnis skizzieren: Hat das Kanu soviel essentielles Gepäck über Bord geworfen, dass es - wenn es denn im Dorf ankommt - seine Mission gar nicht mehr erfüllen kann? Oder haben die Insassen des Kanus einfach bemerkt, dass ein Teil ihres Gepäcks aus einer früheren Zeit stammt, damals wichtig war aber heute eher hinderlich ist? Eigentlich formuliert es das Diskussionspapier treffend: Es geht um Grenzen - in Bezug auf den Liberalismus (die liberale Theologie) die Grenzen des christlich-evangelikalen Glaubens. Es darf natürlich hinterfragt werden, ob man die progressiv Post-Evangelikalen (oder auch nur einige von ihnen) einfach so in das gleiche Boot wie die Liberalen stecken kann? Es muss geprüft werden, was dieses Post (also lat. 'nach' oder 'danach') bedeutet: Wie weit weg von evangelikal landen Post-Evangelikale? Und ist das noch kompatibel mit der Tradition des christlichen Glaubens? [3]
Wo landen Post-Evangelikale? Ein 'Suchender' formuliert es so (aus einem Kommentar bei Facebook):
Bei all den Inputs die ich heute durch Worthaus, ausgeglaubt, Karte und Gebiet, schöner glauben, usw. bekomme, es fehlt mir ein stimmiges Gesamtkonzept, wie und warum ich was glauben kann, will, von mir aus auch "soll" ...
Das beschreibt eine Möglichkeit: Der christliche Glaube wird so ausgebaut, in die Breite gedehnt, dekonstruiert und mit vielen weiteren Zutaten vermengt, dass am Ende keine Klarheit mehr herrscht, was dieser Glaube eigentlich ist. Auf der anderen Seite gibt es die progressiven Christen, die darum bemüht sind ein neues 'stimmiges Gesamtkonzept', passend für das post-evangelikale Sentiment zu entwerfen.
Im nun folgenden Teil dieses Blogartikels möchte ich vor allem auf diese zweite Variante eingehen und fragen, in welcher Beziehung diese 'neueren, innovativen Konzepte' zum historisch-evangelikalen (und biblischen) Glauben stehen. Ich gehe nämlich davon aus, dass der christliche Glaube konkrete inhaltliche Kriterien hat ('ein für alle mal überliefert') und damit kognitiv nachvollziehbar ist (siehe meinen letzten Beitrag). Dazu noch ein Wort für alle Skeptiker von verbindlichen Kriterien. Es handelt sich hier nicht um willkürliche Kriterien - auch nicht um meine persönlichen Kriterien - sondern um die Punkte, die in der Bibel hochgehalten und von der Kirche immer schon bekennt werden. Es geht nicht um persönliche, subjektive Meinungen. Es geht nicht darum, welche Farbschattierungen der Apfel hat. Es geht um den Kern des Apfels. Und sogar darum, ob wir überhaupt alle vom Apfel reden, oder ob die einen eher schon eine Birne meinen. [4]
Apfel oder Birne? Und wo sind die Grenzen?
Es ist klar, dass wir hier keine abschliessenden Antworten geben können. Ich werde mich auf vier Kernpunkte beschränken, ohne die das Christentum seines Namens nicht länger wert ist. Mein Anliegen ist es, diese vier Punkte nur grob zu skizzieren und zu zeigen, wie diese Punkte mit dem Evangelium verwoben sind. Meine These lautet: Wer auch immer in diese (liberalisierende) Richtung unterwegs ist, bewegt sich vom Kern des christlichen Glaubens weg.
Gottesbild
Der moderne Liberalismus, auch wenn nicht konsequent pantheistisch, ist auf jeden Fall pantheisierend. Er tendiert dazu, die Trennung zwischen Gott und der Welt und die scharfe persönliche Unterscheidung zwischen Gott und Mensch aufzubrechen. (Gresham Machen, Christianity and Liberalism, S. 55)
Starten wir mit dem Gottesbild. Die Bibel macht auf den ersten Seiten klar, dass Gott der Schöpfer von allem ist und dass alles andere geschaffen ist. Theologisch spricht man von der Schöpfer-Geschöpf-Unterscheidung. Die ganze biblische Weltanschauung basiert darauf, dass Gott als Schöpfer über und ausserhalb seiner Schöpfung steht und über sie herrscht, obgleich er sich auch in sie involviert und in sie hineinkommt. Diese so wichtige Unterscheidung führt uns diese Realität vor Augen: Gott ist Gott und alles andere ist es nicht. Überlegen wir für einen Moment was passieren würde, wenn wir diese Schöpfer-Geschöpf-Unterscheidung verwischen. Dann könnte es sein, dass Gott ein Teil des weltlichen Prozesses wird, dass er mit der weltlichen Entwicklung mitwächst, dass er letztlich ganz in der Welt aufgeht und nicht mehr von der Welt zu unterscheiden ist. Ein solcher Gott wäre ohnmächtig, uns 'von aussen' durch sein Wort zu addressieren oder uns zur Rechenschaft zu ziehen, wenn wir sein Gesetz übertreten haben, wenn er nicht als Herr über seiner Schöpfung stünde.
Noch schlimmer: So ein Gott könnte uns nicht aus unserer Gefallenheit retten! So hat die Kirche schon früh darum gerungen, wer Jesus ist und kam zum Schluss: Jesus ist sowohl ganz Gott und ganz Mensch, 'ungetrennt und unvermischt' wie es heisst (und nicht ein Gott, der sich im Menschlichen auflöst)! Und nur dieser Gott-Mensch ist in der Lage, uns zu retten, indem er unser Menschsein annimmt, selbst unsere Sünde auf sich nimmt, um uns zu retten, zu heiligen und zu vervollkommnen. Indem er dies tut, bleibt er aber ganz Gott. Nur so kann er uns zu sich ziehen. Oder wie der Kirchenvater Irenäus von Lyon es einst so schön ausdrückte:
Jesus Christus, unser Herr, hat sich auf Grund seiner überströmenden Liebe zu dem gemacht, was wir sind, um uns zu dem zu machen, was er ist.
Menschenbild
An der Wurzel der modernen liberalen Bewegung liegt der Verlust des Sündenbewusstseins. (Machen, Christianity and Liberalism, S. 55)
Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, als Mann und Frau schuf er sie (Genesis 1). Doch die Menschen wandten sich von Gott ab und wollten ihr Leben selber in die Hand nehmen. Sie wollten selber darüber urteilen, was gut für sie ist. Sie wollten die von Gott gesetzten Grenzen transzendieren und selber bestimmen. Sie beteten nicht länger den Schöpfer an, sondern das Geschöpf (Genesis 3, Römer 1). Wie unglaublich viel in diesen ersten Kapiteln der Bibel steckt, wenn es darum geht zu definieren, wie der Mensch ist.
Der Mensch ist geschaffen: Der Mensch ist von Gott ausgedacht. Er hat eine Essenz, die Gott ihm gegeben hat. Er hat eine Würde, weil er im Ebenbild von Gott gestaltet ist. In anderen Worten, dem Menschen sind gute Grenzen gesetzt, die ihn Mensch sein lassen. Er kann diese Grenzen zwar überschreiten, doch dann handelt er gegen seine Natur, gegen die gute und gesunde Ordnung der Schöpfung. Und genau darum sind unsere manchmal überdrüssig scheinenden Diskussionen im sexualethischen Bereich nicht einfach nebensächlich. Wieso spalten sich ganze Denomination darüber was es heisst, Mensch (konkreter: Mann und Frau) zu sein? [5] Weil sie nichts besser zu tun haben? Nein, doch eben gerade weil das Thema so wichtig ist. Es ist in erster Linie wichtig, weil es darum geht Gottes Schöpfung zu ehren und nicht gegen den Strich dieser Schöpfung zu leben. Das täte weder uns gut noch würde es Gott ehren. Doch dann hat das Thema 'menschliche Sexualität', 'Mann und Frau sein', noch viel weitreichendere Verästelungen (Stichwort Evangelium): Die Binarität von Mann und Frau steht soteriologisch für das Bild von Christus und seiner Braut, der Kirche. Die Schöpfungsrealität 'Mann und Frau' ist ein grosses Geheimnis, das auf die Verbindung von Christus mit seiner Gemeinde hindeutet (Eph 5,32). Besser ist, wir schrauben hier nicht zu fest am Rädchen herum. (Für mehr dazu klicke hier).
Der Mensch ist gefallen: Der Mensch, so wunderbar und genial geschaffen, ist trotzdem in Sünde gefallen. Das beraubt ihn seiner Würde und Genialität keinesfalls. Im Gegenteil, wenn wir sagen, dass der Mensch in seinem jetzigen Zustand gefallen ist, implizieren wir ja gerade, dass er sein volles Potenzial noch nicht ausgeschöpft hat. Die progressiv-post-Evangelikalen möchten gerne, so nehme ich es wahr, das eine (Ebenbildlichkeit) ohne das andere (Gefallenheit in Sünde) haben. Doch wenn der Mensch im Grunde eigentlich gut ist und kein gröberes Problem mit Gott hat, braucht er auch keinen Erlöser, der sein Leben für ihn hingibt, damit er mit Gott versöhnt wird. Dann wird das christliche Leben schnell zu einem humanistischen Projekt der Selbst- und Weltverbesserung und Jesus wird nicht mehr als Erlöser angebetet, sondern er wird zu einem guten Vorbild, dem man folgen soll. Keiner hat das besser auf den Punkt gebracht als Gresham Machen:
Hier liegt der grundlegendste Unterschied zwischen Liberalismus und Christentum: Der Liberalismus ist insgesamt in einem imperativen Modus gestimmt, während das Christentum mit einem triumphalen Indikativ beginnt; Der Liberalismus beruft sich auf den Willen des Menschen, während das Christentum zunächst eine gnädige Tat Gottes verkündet. (Christianity and Liberalism, S. 39)
Jesus und das Evangelium
Wenn man die Lehre von der Sünde ablehnt und ihre Schwere herunterspielt, muss man einen anderen Grund für den Tod Christi finden. (aus Michael J. Kruger, The Ten Commandments of Progressive Christianity, S. 15)
Welcher Grund wird anstelle des Stellvertretungstodes gefunden? Zum Beispiel, dass Jesus sich in seinem Leiden mit den Leiden der Welt solidarisiert hat. Oder dass er am Kreuz dem Satan eine vernichtende Niederlage beschert hat. Oder dass seine Liebe zur Menschheit zum Ausdruck kam. Nun ist das Geschehen am Kreuz zweifelsohne keine eindimensionale Angelegenheit. Das Heil, das Christus durch seinen Tod (sowie seine Auferstehung!) erwirkt hat ist mehrdimensional. Doch Stellvertretung ist ganz sicher der Kern des Ganzen, wie die Kirche es immer schon bekannt hat. Machen fasst zusammen:
Alle diese [Teil-]Wahrheiten sind in einer weitaus größeren Wahrheit verschlungen – dass Christus an unserer Stelle gestorben ist, um uns tadellos vor den Thron Gottes zu stellen. (Christianity and Liberalism, S. 101)
Wir reden hier von den zentralsten Heilswahrheiten. Wenn wir dabei zu grosse Abstriche machen, landen wir bei einem Christentum, das kein Christentum mehr sein kann. Wenn nicht länger geglaubt wird, dass der Mensch in seiner Sünde von der Gemeinschaft mit Gott ausgeschlossen ist und Erlösung braucht - und nicht länger bekennt wird, dass Jesus demzufolge wegen unseren Sünden am Kreuz sterben musste - dann bleibt vom historischen Christentum nur noch ganz wenig übrig. Dann wird die gute Nachricht eben zu schnell wieder zu einem guten Ratschlag: Macht diese Welt zu einem besseren Ort! Sicher ist die Wiederherstellung des Kosmos Teil der guten Nachricht, des Evangeliums - und daraus folgt, dass wir uns sozial (und ökologisch) für eine bessere, gerechtere Welt engagieren. Es geht nicht nur um mich und Jesus. Was aber, wenn ich die ganze Welt rette, dabei aber mein (ewiges Leben) verliere? Das historische Christentum hat diese so zentrale Frage immer gestellt: Wie kann der Mensch wieder in die (ewige) Gemeinschaft mit Gott finden? Wenn wir diese Frage nicht mehr stellen und beantworten, verlieren wir den Kern des Evangeliums. [6]
Schriftverständnis
Das Christentum basiert auf der Bibel ... sowohl in seinem Denken als auch in seinem Leben ... Der Liberalismus hingegen basiert auf den wechselnden Gefühlen sündhafter Menschen.. (Christianity and Liberalism, S. 67)
Zum Schluss die Bibel. Warum die Bibel als zentraler Punkt? Die Bibel ist das formelle Prinzip des Evangeliums: sie enthält das Evangelium zwischen ihren Buchdeckeln. Wo sonst finden wir absolut verlässliche Information über Jesus Christus, über sein Leben und Sterben, über seine Worte, die wir als seine Nachfolger bewahren sollen? Nicht in unserem Verstand oder unserer Intuition primär. Darum war es für die Kirche so wichtig, der Bibel ganz zu vertrauen. Der grosse Unterschied, wie wir an die Bibel herangehen und sie interpretieren (denn interpretieren müssen wir sie) liegt in unserer Haltung zu ihr. Geben wir ihr ein Vorschussvertrauen, weil sie Gottes Wort ist, oder kritisieren wir sie von Grund auf, weil WIR meinen, es besser zu wissen?
Kleines Fazit zu den vier Punkten - Apfel oder Birne?
Das Diskussionpapier der Täufer stellt folgendes fest:
Postevangelikale suchen ebenfalls einen lebendigen, erwecklichen Glauben. Ihnen sind jedoch die traditionellen evangelikalen Dogmen nicht mehr immer nachvollziehbar und sie ringen deshalb offen nach biblischer Wahrheit. Die Betonung liegt jedoch weiterhin auf der «biblischen Wahrheit». Wenn Postevangelikale deshalb Fragen an die traditionellen Lehrmeinungen Evangelikaler haben, dann gerade deshalb, weil sie die Bibel ernst nehmen, die göttliche Autorität der Bibel unterstützen aber gewisse klassische Antworten kritisch hinterfragen oder zu anderen Ergebnissen gelangen.
Das mag sein und es mag sogar gut sein. Es kommt halt darauf an, zu welchen anderen Ergebnissen man gelangt. Decken sich diese Ergebnisse mit dem biblisch offenbarten Glauben und dem, was die Kirche durch die Jahrhunderte bekannt hat? Bringen diese Ergebnisse vielleicht einfach noch neue (oder vergessene) Aspekte des Apfels hervor? Oder sind sie eher Birnen-ähnlich? Wir müssen uns schon bewusst sein: das Christentum ist kein Obstladen, in dem man sich seinen Früchtekorb rein individuell zusammenstellt. Bei aller Vielfalt gibt es Grenzen. Ich habe hier mit Gresham Machen konsequent vom Liberalismus, also einer theologischen Strömung im Protestantismus, die so grob Mitte des 19. Jahrhunderts aufkam, gesprochen. Sind Post-Evangelikale Liberale (liberal, was ihre Theologie betrifft)? Das wird sich zeigen müssen. Ich beobachte Tendenzen in diese Richtung - mal mehr, mal weniger. Es bleibt, am Ende des Tages müssen sich die Post-Evangelikalen am biblischen Evangelium messen und dann wird sich mittelfristig zeigen, von welchem Obstbaum sie pflücken.
Von Ketzer-Jägern und Schafen und Wölfen
Gerald Bray schrieb einst über die Evangelikalen unter den Anglikanern:
Überzeugte Evangelikale werden jetzt von jenen, die eher „offen“ sind, als „engstirnig“ verspottet ... Es lohnt sich darüber nachzudenken, dass es heute überhaupt keine Kirche gäbe, wenn Jesus ein „offener Evangelikaler“ gewesen wäre. (Churchman, 1993)
Sind Evangelikale, die sich um den historisch überlieferten Glauben kümmern engstirnig, immer gleich die urteilende Axt über den Häuptern anderer schwingend (wogegen sie auf der sicheren Seite sind)? Sind wir die grossen Häresie-Jäger? Die Gefahr besteht. Wenn beispielsweise Alisa Childers die progressiven Christen in ihrem Buch Another Gospel als Gnostiker und Markioniten bezeichnet, geht sie zu unsorgfältig vor, finde ich. Nicht jeder, der gewisse Texte des Alten Testaments infrage stellt, ist gleich wie Markion, der das ganze AT streichen wollte. [7]
Was das post-evangelikale Phänomen angeht, bewegen wir uns (aus meiner Warte) auf einer Gratwanderung. Wie unterscheiden wir zwischen den Wölfen, die klar ein anderes Evangelium propagieren und den umherirrenden Schafen, die auf der Suche nach einem echten und tiefen Glauben sind und vielleicht einfach in der falschen Ecke suchen? Wie es das täuferische Diskussionspapier sagt, braucht es solche Räume, "in denen post-evangelikale Anfragen ehrlich und fair zur Sprache kommen. Ansonsten schleichen Post-Evangelikale früher oder später auf leisen Sohlen aus den Kirchen."
Was mich manchmal stört ist, dass dann quasi jeder neu-gefundene Glaubensentwurf automatisch valide sein soll. Denn das hat viel weniger mit evangelikal zu tun denn mit unserer Zeit. Wie Packer und Oden es formulieren:
Das evangelikale Ziel war und ist immer noch die Rückkehr zum apostolischen Christentum, wie es im Neuen Testament dargestellt wird, und Evangelikale dürfen dieses treibende Anliegen nie aus den Augen verlieren. (Packer und Oden, One Faith, S. 15)
Dazu laden wir ein, auch wenn wir nach neuen Formulierungen und Formen ringen. Und wenn dann doch jemand auf leisen Sohlen davon schleicht, dann vielleicht, weil er oder sie dieses Anliegen nicht länger teilt?
[1] Brian McLaren war einer der Gründer der sogenannten emergent church. Um diese Bewegung ist es zwar schon länger etwas ruhiger geworden, respektive hat sich vieles dieser Bewegung ins Post-evangelikale hinein destilliert.
[2] Das Spektrum geht hier von der relativistischen Perspektive - die Kirche hat über die Zeit so verschiedene Positionen vertreten, dass man kaum von Kongruenz reden kann - bis zur essentialistischen Perspektive - es existiert eine essentielle christliche Lehre, die über die Jahrhunderte immer gleich blieb (und all den Perspektiven dazwischen). Siehe dazu Gregg R. Allison, Historical Theology: An Introduction to Christian Doctrine. Zurück zum Text
[3] Albert Mohler geht soweit zu sagen, dass 'das Aufkommen der revisionistischen oder reformistischen Evangelikalen die Fragen nach evangelikalen Identitäten erneut aufwirft. Kurz gesagt, ihre Vorschläge laufen auf etwas hinaus, was man nur als eine neue Form des protestantischen Liberalismus bezeichnen kann.' (Spectrum, S. 89)
[4] D.h., ich beanspruche damit nicht das alleinige Monopol auf den rechten Glauben zu haben. Sie dazu diesen Beitrag.
[5] Das Thema 'Ordination von homosexuellen Priestern' spaltete sowohl die Bewegung der Methodisten weltweit (siehe hier) und die anglikanische Kirche (siehe diverse Links in diesem Beitrag). Zurück zum Text
[6] Ich möchte hier in keinster Weise die Vielschichtigkeit des Heils kleinreden. Eine der neusten und besten Studien zum Thema Heil, die alle Aspekte holistisch integriert, kommt dennoch zum Schluss, dass der Aspekt der Stellvertretung zentral ist (Joshua M. McNall, The Mosaic of Atonement). Zurück zum Text
[7] Randal Rauser bringt diese Kritik in Progressive Christians Love Jesus Too, S. 102 vor. Zurück zum Text
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