Spiritualität boomt, von religiösen über psychologische bis zu esoterischen oder neuheidnischen Varianten, von Zen bis zum Gottes-Gen, von Yoga bis zum heiligen Joghurt. [1] Selbst innerhalb des Christentums gibt es selbstverständlich nicht DIE eine Form von Spiritualität: ignatianisch-kontemplativ, asketisch, mystisch, aktiv, passiv, individualistisch, gemeinschaftlich, klösterlich, charismatisch-pfingstlich … einmal tief Luft holen … Pilgerreisen, Exerzitien, Enneagramm, Christogramm, Anbetungsprogramm, Fasten (und weniger Kilogramm?), Stundengebet, Jesus-Gebet, Gebet, oder die totale Stille … ! Es ist erstaunlich. In all dieser Fülle von spirituellen Möglichkeiten sind wir Evangelikalen trotzdem sehr unsicher darüber, ob wir überhaupt eine eigene Spiritualität besitzen – ausser der alt bekannten Stillen Zeit vielleicht.
Wenn heute von Spiritualität geredet wird, dann meistens von bestimmten Formen, Praktiken, Arten, Orten oder Persönlichkeiten – weniger von Inhalten. Das tönt dann häufig so, als wäre das, was zählt vor allem das, was wir praktizieren. Oder wir reden von Spiritualität, wenn wir eine Erfahrung mit Gott gemacht haben – in der Anbetung, in der Stille, im aktiven Leben. Aber wer ist dieser Gott? Was zeichnet ihn aus? Wie definiert er Spiritualität?
Wieso nun eine reformatorische Spiritualität? Mit 'reformatorisch' meine ich weniger das, was wir heute in der 'reformierten' Kirche antreffen. Wir alle kennen die reformierte Kirche in unseren Landen und wissen, wie unterschiedlich sich dort Glaube, Gottesdienst und christliches Leben gestalten können. Es ist schwierig hier von einer bestimmten und klar definierten Spiritualität zu sprechen. [2] Wenn ich von einer reformatorischen Spiritualität spreche, dann beziehe ich mich explizit auf die Bewegung der Reformation und ihrer Ausläufer. Was für ein Gottesbild prägte die Reformation, wie wurde Glaube verstanden und gelebt, und wie kann uns das heute sogar noch weiterhelfen?
Gewöhnlich wird die Reformation als eine theologische Bewegung verstanden, die für die rechte Lehre kämpfte. Ging es den Reformatoren nicht vor allem um den richtigen Glauben, um Orthodoxie und Dogmatik? Alles Dinge, die heute nicht mehr so genau genommen werden müssen, die nicht mehr so großes Gewicht haben und die - nebenbei bemerkt - auch alles andere als populär sind. Wohlgemerkt, die Reformation war eine zutiefst theologische Bewegung, im besten Sinne dieses Wortes. Doch war sie nicht primär eine akademische Affäre (obwohl dabei auch Doktorhüte in die Luft geworfen wurden). Der Theologe Pannenberg behauptete sogar, dass die Reformation in erster Linie die Antwort auf eine spirituelle Krise der Zeit war - eine Krise, die das 'einfache' Volk erfasst hatte. Dabei ging es um solch tiefschürfende Fragen wie, 'kann ich sicher sein, dass Gott mich wirklich liebt und annimmt?', oder, 'was muss ich tun, damit ich gerettet werde?' Wir reden hier also von einer spirituellen und theologischen Krise zugleich. [3] Theologie im reformatorischen Sinn kann und darf nie losgelöst vom christlichen Leben, Glauben, Beten und Handeln verstanden werden.
Die Reformation ist für die sogenannten Solas bekannt. [4] Allein zur Ehre Gottes, allein Christus, allein die Gnade, allein durch Glauben, allein die Schrift. Die fünf Solas fassen das reformatorische Programm gut zusammen und geben uns ein gutes Raster vor, um reformatorische Spiritualität zu verstehen. Sie sind so etwas wie eine Landkarte, die uns hilft, Spiritualität zu navigieren. Sie bilden das Skelett dieser Spiritualität, um das herum dieser Glaube aufgebaut wird.
Soli Deo Gloria, Gott allein die Ehre - thront über allen anderen Solas. Hier wird von vornherein unmissverständlich klargestellt, dass es um Gott und um seine Ehre geht. Gott ist derjenige, der geistliches Leben überhaupt erst ermöglicht - von ihm geht es aus, zu ihm fliesst es zurück. Ohne Gott keine reformatorische Spiritualität. Die erste Frage des Westminster Katechismus (ein bekanntes reformatorisches Bekenntnisschreiben) fasst dies schön zusammen. Frage: "Was ist das höchste Ziel des Menschen?" Antwort: "Das höchste Ziel des Menschen ist, Gott zu verherrlichen und sich für immer an ihm zu erfreuen." Eine Spiritualität, in der Gott (der Vater-der Sohn-der Geist) nicht ständig als Objekt der Anbetung vorkommt, hat vielleicht etwas mit Joghurt zu tun, aber nicht mit reformatorisch.
Sola Gratia, nur durch Gnade. Spiritualität, geistliches Leben ist ein Geschenk Gottes. Stell dir vor, du würdest dem Buddha begegnen. Was würde er dir raten? Folge dem achtfachen Pfad und halte die fünf Grundregeln ein und du wirst Erleuchtung erlangen? Es liegt alles am Menschen, der sich selbst erlösen muss, indem er ..................................!
Es ist faszinierend! Es gibt keinen Religionsstifter, Sektenbegründer oder Guru, der von sich sagen würde, dass er selbst der Weg zur Erlösung ist. Nein, die gängige Message lautet: Tu dies, mach das, folge dem, halte fest, lass los - dann wirst du zum Ziel kommen, zur Perfektion, zur Erleuchtung, zur Vereinigung mit dem Göttlichen! Jesus aber sagt: "Ich bin der Weg. Niemand kommt zum Vater, denn durch mich!" Jesus zeigt mit dem Finger auf sich. Er steht im Zentrum, nicht der Mensch! (Solus Christus) Er sagt: 'Komm zu mir mit leeren Händen und ich werde deine Hände füllen. Komm mit deinem zerbrochenen Herzen und ich werde es heilen. Komm mit deiner Sünde und ich werde dir vergeben.' Wie kann das sein? Weil alles bereits vollbracht ist, wie Jesus am Kreuz sagte. Das ist, wie wenn du einfach zu Tisch sitzen kannst und ein 10-Gang-Menü serviert bekommst, ohne dass du vorher geduscht, rasiert und dich schön gemacht, geschweige denn gekocht hast. Wir müssen nichts anderes tun, als das Geschenk anzunehmen (dazu braucht es 'nur' Glauben - Sola Fide). Essenz dieser Spiritualität ist zu empfangen und dann zu antworten - nicht, sich die spirituelle Leiter Sprosse um Sprosse hochzuarbeiten.
Aus diesem Grund war die Lehre der Rechtfertigung durch den Glauben so zentral für die Reformation (Calvin sprach vom Dreh- und Angelpunkt des christlichen Glaubens - und damit meinte er nicht nur eine theologische Wahrheit, sondern eine tief erfahrbare, geistliche Realität in der Beziehung des Christen zu Gott). Allein durch Christus sind wir gerecht gesprochen, nicht durch unsere eigenen Bemühungen und unser Bestreben, zu Gott zu gelangen (ein weiteres Credo reformatorischer Spiritualität war, dass die Sündhaftigkeit des Menschen so tief und verstrickt ist, dass er sowieso nicht aus eigener Kraft den Berg Gottes erklimmen kann). Startpunkt des christlichen Lebens und christlicher Spiritualität ist unsere Rechtfertigung in Christus, dass er es für uns recht gemacht hat, nicht dass wir schon richtig und fertig sein müssen. Wir werden zu Söhnen und Töchtern gemacht (adoptiert), bevor wir beginnen, als Söhne und Töchter zu leben, zu denken und zu handeln. Diese Art von Spiritualität kreiert eine Atmosphäre der Dankbarkeit. Wir geben unser Leben für Gott hin, weil Christus sein Leben für uns hingegeben hat. Und darum ist Anbetung (Soli Deo Gloria) ein so zentrales Merkmal dieser Spiritualität. Wer hat mehr Grund und Ansporn zu danken und zu singen? Der, dem alles geschenkt wurde oder der, der doch im wesentlichen selber zum Ziel gekommen ist? Es ist diese Dankbarkeit aus demütigem Herzen, die Paulus bewegt, wenn er sagt, dass wir uns des Herrn rühmen sollen und nicht unserer selbst (1 Kor. 1,28.31).
Die Dynamik der Rechtfertigung ist auf allen Ebenen des christlichen Lebens spürbar am Werk. Wenn wir beten, müssen wir nicht die richtigen Formeln wiedergeben, damit Gott uns hört. Wir müssen uns keine Audienz beim Vater verdienen. Und selbst wenn wir in Sünde und mit einem schlechtem Gewissen kommen haben wir die Gewissheit, dass unser Vater uns um Christi willen annimmt! Diese Dynamik befreit das Beten von einer unpersönlichen, mechanischen und vielleicht anstrengend bemühten Übung zu einem ehrlichen Dialog mit Gott dem Vater.
Sola Gratia funktioniert im geistlichen Leben wie ein Trampolin: Gottes Geist offenbart mir mein zu kurz Sein, meine Sünde, meine Verstrickung in destruktiven Mustern - ich falle! Gleichzeitig zeigt er mir die unendliche Liebe von Christus auf, der auf Erden kam, um mit meinen Sünden und meiner ganzen gefallenen Existenz fertig zu werden - ich spicke hoch! Das sind die Voraussetzungen einer reformatorischen Spiritualität, der Antrieb des christlichen Lebens par exellence! Je mehr wir Gottes Gnade vis-à-vis unserer sündigen Gefallenheit erkennen, desto mehr werden wir von unseren eigenen, selbstgenerierten Erlösungsbestrebungen ablassen und uns dem gnädigen Gott zuwenden! Aus eigener Erfahrung weiss ich: da steckt mehr geistliche Vitalität drin als im hochdosiertesten Joghurt.
Sola Fide, nur durch den Glauben. Dieses Sola bildet das komplementäre Gegenstück zu Sola Gratia. Es heisst ja auch Rechtfertigung durch den Glauben - und nicht durch geistliche Disziplin, gute Werke, die richtige Liturgie oder Zugehörigkeit zur Gruppe. Je nach Szene, in der ich unterwegs bin, bekomme ich manchmal fast das Gefühl, dass ich durch meinen Klima-Aktivismus, mein Einstehen für soziale Gerechtigkeit, meine Zu-stimmung zu bestimmten theologischen Ansichten oder Personen gerechtfertigt werde. Wenn es die eine richtige Methode gibt, um geistlich voranzukommen, dann ist es Fide - zu glauben, in Empfang zu nehmen, was Gott bereithält. Denn Glauben heisst letztlich, zu ergreifen, zu vertrauen, auf Christus zu schauen und nicht selber zu werkeln oder genug diszipliniert zu trainieren, um geistlich fit zu werden. Es sind nicht wir, die Spiritualität produzieren! Wir erhalten geistliches Leben von Gott, aus unserer Einheit mit Christus durch den Glauben (wenn es einen theologischen Satz in diesem Beitrag gab, dann diesen). Man kann sich das so vorstellen wie bei der Erzeugung von Solarenergie. Was macht ein Solarpanel, ausser die Sonne zu absorbieren und ihre Energie umzuwandeln? Genauso (oder halt so ähnlich) ist es mit dem Glauben. Der Glaube absorbiert das Evangelium und das Evangelium energetisiert den Glaubenden, treibt ihn an, motiviert und verändert. Darum beschwert sich Paulus darüber, dass die Galater anfänglich geglaubt hatten, es jetzt aber aus eigener Kraft und ohne den Geist Gottes schaffen wollten (Gal 3,2-3). Es gilt dies: 'Wie ihr nun angenommen habt den Herrn Christus Jesus, so lebt auch in ihm.' (Kol 2,6) Glaube ist die einzig wirkliche Methode zu geistlichem Wachstum.
Solus Christus, allein Christus. Alles was bisher gesagt wurde, zielt auf dieses Sola hin. Es gibt keine Spiritualität im biblischen Sinn ohne Christus, der uns sein Leben gibt. Durch seinen Geist werden wir eins mit ihm - aus dieser Einheit fliesst alles geistliche Leben. Es gibt kein geistliches Leben ausserhalb von Christus! Ohne mich könnt ihr nichts tun (Joh 15,5). Solus Christus steht für Beziehung zu Christus. Echte christliche Spiritualität zieht uns 'aus uns heraus' und pfropft uns 'in Christus hinein' (Joh 15 ganzer Abschnitt). Es sind nicht wir: kein Self-Help, keine Selbstheilung, kein Self-Improvement-Programm. Nur Christus! Warum enden reformatorische Predigten immer bei Christus (und nicht bei den nächsten Actionsteps für die kommende Woche)? Warum sucht man im biblischen Text überall nach Christus? Warum betet man im Namen von Christus? Weil sich alles um Christus dreht. Brauchst du Trost? Geh zu Christus. Brauchst du Frieden? Geh zu ihm. Brauchst du Perspektive? Er gibt sie dir. Brauchst du Vergebung? In Christus. Brauchst du Hoffnung? Dito. Spiritualität ist keine Substanz, die eingeflösst wird, kein geistliches Prinzip, nicht primär eine Aktivität oder Liturgie, kein Guetzli, sondern eine Beziehung, in die wir gestellt sind. Das Geschenk, das wir empfangen, ist letztlich Christus selbst und der unausforschliche Reichtum, den wir in ihm haben (Eph 3,8).
Sola die Solas?
Ist das alles? Was ist mit Mission, sozialem Engagement, Kirche, Gemeinschaft, Bibel, Sakrament, Kunst, Schöpfung, geistlichen Disziplinen, usw.? Natürlich gäbe es mehr zu sagen (so wie immer!). Die Solas sind nicht das Einzige, was reformatorische Spiritualität zu bieten hat. Und ja, ich kann zählen - das fünfte Sola, nämlich Sola Scriptura, wurde in einem früheren Beitrag besprochen. Ich erwähnte anfangs Pannenbergs Beobachtung, dass die Reformation vor allem eine Antwort auf eine geistliche Krise war und dass diese Krise mit einem bestimmten Gottesverständnis zusammenhing. Wer ist dieser Gott? Wie kann ich zu ihm kommen? Wie kann ich sicher sein, dass er mich annimmt? Die Reformation ging zurück zur Bibel und zeigte uns die Herrlichkeit dieses Gottes, der allein anbetungs-würdig ist (Soli Deo Gloria). Sie wies auf den Weg hin, wie wir zu diesem Gott kommen können - nur durch Christus, allein aus seiner Gnade, nur durch den Glauben - und bekundete dadurch, wie krass das gnädige Herz dieses Gottes tickt, der sich so weit zu uns herunter neigt, dass er seinen Sohn für uns in die Welt sandte, damit wir durch ihn zum Vater kommen können. Das ist nicht alles, aber es ist das eigentliche Herzstück der christlichen Religion. Auf diese gloriose Tatsache schauen wir wieder und wieder, bis in alle Ewigkeit (siehe Offenbarung Kap. 5). Diese Tatsache, diese gute Nachricht, ist auch die Antriebsfeder, die das ganze christliche Leben in Schwung bringt, vom Beten bis zum Handeln, im Alltag und am Sonntag.
Ein Begleitwort (vielleicht nicht nur) für Theologen:
Haben wir es hier mit einem überirdisch jenseitigen Glauben zu tun? Mit einer blutleeren, unpraktischen Spiritualität, die nicht anpackt? Ist nicht der Fokus zu stark auf einer individualistischen Ich-Du-Gottes-Beziehung? Geht es nicht zu einseitig um Soteriologie (also die Lehre darüber, wie Jesus uns rettet)?
Es stimmt, die Solas betonen eine soteriologische Realität: Wie werde ich aus meiner sündigen Gefallenheit in eine Beziehung zu Gott gerettet. (Mit dabei sind so knackige Extras wie der Zorn und das Gericht Gottes, oder Himmel und Hölle). Doch handelt letztlich nicht die ganze biblische Story davon, wie Gott sich ein Volk rettet und zu sich und ins gelobte Land führt? Von Adam bis zum neuen Zion ist dies das prägende Hauptthema, natürlich mit so netten 'Begleiterscheinungen' wie, dass Jesus den Tod überwindet und dass er die ganze Schöpfung rettet und neu schafft. Soteriologie spielt dabei auf der Hauptbühne, mit Christus in der Hauptrolle. Das ist eine eminent wichtige Betonung, die man in jeder Form von christlicher Spiritualität zuvorderst halten sollte. Gott handelt - Gott rettet - Gott schafft neu! Reformatorische Spiritualität ist radikal Gott-zentriert, radikal gegen alle menschlichen Bemühungen zur Selbsterlösung. Das Evangelium ist eine gute Nachricht, die Good News, dass Gott in Christus entscheidend für uns und an unserer Stelle gehandelt hat. Eine gute Nachricht, kein guter Ratschlag eben! Und es ist diese Nachricht, die am Ende alles verändert, nicht unsere menschlich-allzu-menschlichen Bestrebungen.
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[1] Siehe zum Gottes-Gen: https://www.wissenschaft.de/gesellschaft-psychologie/das-gottes-gen/ und zum spirituellen Joghurt: https://wiki.yoga-vidya.de/Dadhi
[3] Siehe Pannenberg in Brian Kay's Buch 'Trinitarian Spirituality', Seite 14.
[4] Genau genommen wurden diese Solas nicht in der Reformation formuliert, noch systematisch reflektiert (dies war erst später der Fall). Die Terminologie war teilweise vorhanden (siehe z. B. diesen Satz Melanchthons: „sola gratia justificamus et sola fide justificamur“ (Philippi Melanthonis Opera quae supersunt omnia, Band 8, 357). Es geht hier weniger darum, ob die Reformatoren exakt diese Terminologie verwendeten, sondern darum, dass sich ihr 'Programm' oder 'Verständnis' des Evangeliums inhaltlich danach richtete.
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