Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht (Römer 1,16)
Tue nichts im Leben, was dir Angst machen muss, wenn es dein Nächster bemerkt. (Epikur von Samos)
Andreas 'Boppi' Boppart beobachtete in seinem Artikel 'so tickt die Jugend' im IDEA (war schon Anfang 2020, bin also nicht mehr ganz aktuell), dass 'wir es in Europa nicht mehr mit einer klaren Schuld-, sondern mit einer Schamkultur zu tun haben.' Soziologen stellen fest, dass hier 'ein bedeutender Shift passiert ist, eine massive Verschiebungsbewegung in der gesellschaftlichen Plattentektonik.' Dieser Shift mache sich in unserer moralischen Matrix deutlich, indem Werte 'nicht mehr einfach absolut wahr' sind, sondern sich 'durch Orientierung innerhalb einer Gruppe' ergeben. So postulierten es die zwei Ethnologinnen Margaret Mead und Ruth Benedict:
Ein schuldorientiertes Gewissen kennt einen absoluten moralischen Standard, während ein schamorientiertes Gewissen sich an der Moral der Gruppe orientiert.
Oder wie Jayson George es unlängst formuliert hat: 'In Scham-Ehre-Gesellschaften herrscht eine starke Gruppenorientierung vor. Ehre ist die gesellschaftliche Würde einer Person, der Wert, den man vor den Augen der Gemeinschaft besitzt.' 'Scham dagegen erfährt man durch die negative Bewertung in der Öffentlichkeit, wenn die Gemeinschaft schlecht über einen denkt.' (Mit anderen Augen: Perspektiven des Evangeliums für Scham-, Schuld- und Angstkulturen, S. 22-23). Junge Menschen heute leiden unter dem Druck, sich ständig präsentieren zu müssen und der Angst, nicht zu genügen. Boppi meint:
Jugendliche wachsen in einem Umfeld heran, in dem sie permanent mit den schöngefärbten Leben auf Social Media, mit dem Schaufenster ihrer Freunde und Nichtfreunde zugespamt werden. Sie sehen alle auf ihren Lebensbühnen performen, nur bei sich sehen sie „Backstage“ (hinter die Bühne) und wie es da wirklich ausschaut. Die Folge davon sind zutiefst beschämte Menschen, verunsichert in ihrer Identität.
Scham hat mit Identität zu tun: Wie sehen mich die anderen und genüge ich, so wie ich bin? Für Boppi geht Scham existenziell sogar noch tiefer als Schuld (verstanden als die Momente, in denen wir falsch gehandelt haben). Heute ist es 'Scham über das eigene Sein, über das Nichtgenügen als Mensch', was die junge Generation verstört. Nochmals:
'Während schuldgeprägte Menschen mit der Aussage leben: „Ich mache Fehler!“, sagen sich schamgeprägte: „Ich bin ein Fehler!“.'
Wie kommunizieren wir das Evangelium in einer schamorientierten Kultur? Müssten wir dem gesellschaftlichen Shift von Schuld zu Scham nicht auch in unserer Verkündigung des Evangeliums Rechnung tragen? Unbedingt, meint Boppi:
Wir brauchen kein neues Evangelium, aber wieder ein ganzheitliches. Und neue Worte dazu und eine Sprache, die wieder verstanden wird. Gnade wird nicht mehr als Bezahlung eines Schuldscheins verstanden werden, aber als Wiederherstellung der Harmonie mit Gott wird sie ersehnt.
Wollen wir der 'nächsten Generation die Chance geben, Christus mit derselben Intensität nachzufolgen, wie wir es tun?' Wenn wir die Frage mit einem Ja beantworten (wer würde hier Nein sagen wollen!), könnte dies bedeuten, dass wir unsere alten Vorstellungen des Evangeliums neu überdenken müssten. Funktioniert unser altes Evangelium heute noch? Doch zunächst ...
Leben wir wirklich in einer Schamkultur?
Ich bin weder Soziologe noch Ethnologe und kann den vermeintlichen Shift von Schuld zu Scham in unserer westlichen Kultur daher nur als Laie kommentieren. Jayson George, der von Scham-, Schuld- und Angstkulturen spricht, räumt ein, dass diese Modelle dazu dienen, 'eine sehr komplexe Realität zu verstehen und überschaubarer zu machen.' (S. 19) Selbst wenn man klar sagen kann, dass eine bestimmte Kultur in eine Richtung tendiert, 'finden wir in allen Kulturen Grundzüge' aller drei Modelle. Ähnlich sieht es auch Thomas Schirrmacher:
Da jede schuldorientierte Kultur Elemente einer schamorientierten Kultur enthält und umgekehrt und eine strikte Trennung der beiden Orientierungen unmöglich ist, muß man von Orientierung sprechen, nicht im absoluten Sinne von Scham- und Schuldkultur. (Scham- oder Schuldgefühl? Die christliche Botschaft angesichts von schuld- oder schamorientierten Gewissen und Kulturen, S. 35)
Ich denke es ist geboten, hier zurückhaltend zu sein und nicht mit einer schwarz-weiss-Schablone zu arbeiten. Die Realität ist häufig komplexer als unsere Modelle es gerne hätten. Und zudem lebe ich nach wie vor im Glauben, dass letztlich nur die Bibel dieser Komplexität der menschlichen Existenz gerecht wird (dazu kommen wir weiter unten).
Darüber hinaus habe ich meine Fragen, ob westlicher Individualismus und Schamkultur wirklich so gut zusammenpassen. Zumindest in den Kreisen, in denen ich hausiere, kommt Selbstverwirklichung vor Gruppenorientierung. Ich entscheide, wer ich sein will und die anderen sollen mich bitte validieren (wobei hier schon ein gewisses Mass an 'Abhängigkeit' vom Urteil anderer sichtbar wird). Aber ich verzichte nicht so gerne um der Gruppe willen auf die Dinge, die mir wirklich wichtig sind und für die ich einstehen will.
Wie Schuld und Scham zusammenhängen - eine psychologische Antwort
Sind Scham und Schuld in unterschiedlichen Schubladen untergebracht? Kommt ganz auf die Definition von Schuld an. Wenn Schuld als 'das Übertreten einer bestimmten Norm' gesehen wird, lässt sie sich durch eine Wiedergutmachung, einer persönlichen Entschuldigung und Entschädigung reparieren. Und wenn man Schuldgefühle auf diese Weise vor allem an eine 'schuldige Tat' gekoppelt versteht, ist man relativ weit weg von einer existenziellen Infragestellung des Selbst. Solange ich keine groben Fehler mache, bin ich mehr oder weniger in Ordnung. Klar fühle ich mich schlecht, wenn ich etwas Böses getan habe. Aber ich fühle mich deswegen nicht gerade falsch oder minderwertig. Mein Gefühl von Unzulänglichkeit hat doch viel mehr mit Scham als mit Schuld zu tun. Denn Scham spricht ja davon, dass ich selbst der Fehler bin! (siehe Jayson George, S. 25)
Auf den ersten Blick scheint Scham also auf einer tieferen Ebene angesiedelt zu sein als Schuld. Zwei Schubladen also? Der (christliche) Psychologe Bruce Narramore meint nein:
Ich meine, dass beide Erfahrungen - weil beide aus der Selbstverurteilung durch das Gewissen entstehen - als verschiedene Aspekte desselben Prozesses verstanden werden können. (aus No Condemnation: Rethinking Guilt Motivation in Counseling, Preaching & Parenting, S. 29, meine Übersetzung)
Bruce Narramore erinnert uns an den tragischen Vorfall im Paradies: 'Als Adam und Eva sündigten, erlebten sie sowohl Scham und Angst vor Bestrafung als Folgen ihrer Schuld', durch ihr Übertreten des göttlichen Verbotes (S. 29) Anders gesagt, der Grund für ihre Scham war, dass sie sündigten, nicht dass sie irgendwie grundsätzlich 'falsch' waren. Natürlich lässt sich der Sündenfall nicht auf einen reinen Verbotsbruch reduzieren. Die ersten Menschen misstrauten der Güte und dem Plan Gottes. Es ging um Beziehung und Vertrauen, um personale Aspekte. Nur dass hier am Anfang alle diese Dimensionen nicht in unterschiedliche Schubladen aufgeteilt, sondern alle in derselben vermischt da liegen. Bruce Narramore fasst es so zusammen: 'Der Verlust der Selbstachtung [dass ich falsch bin] ist Teil der Schulderfahrung, ein Resultat davon, oder zumindest ein paralleler Prozess, der aus der Funktion des Gewissens erwächst.' (S. 30) Warum ist das so?
Ganz egal welche theoretische Perspektive wir anwenden, um [das Phänomen der] Selbstachtung zu analysieren, wir enden damit, den Ursprung des Problems beim Erfolg oder Misserfolg der betreffenden Person in Bezug auf ihre selbstgesetzten Ideale zu suchen. Selbstachtung resultiert also aus Selbstevaluation. (Seite 31)
Und Selbstevaluation orientiert sich an einem gesetzten Standard, einer Norm - wobei dieser Standard zur Selbstprüfung selbst gesetzt oder von aussen auferlegt wird (durch andere Menschen oder, wie ich in meinem letzten Artikel argumentiert habe, durch Gott). Scham (nicht zu genügen, falsch zu sein) hängt eng mit Schuld (ganzheitlich als ein dem gesetzten Maßstab-nicht-gerecht-Werden) zusammen.
Nur dass man in der Psychologie halt lieber von Scham als von Schuld spricht. Der Grund liegt auf der Hand: 'Ich bin der Auffassung, dass ein Grund, warum Psychologen lieber von Selbstachtung getrennt von Schuld reden darin liegt, dass sie das Problem so aus der moralischen Zone heraus bewegen.' (S. 31) In unserer Zeit reden wir nicht gerne von Moral, Sünde und menschlicher Verantwortlichkeit, sondern lieber davon, dass wir von unserem Minderwert und unserer Scham therapiert und geheilt werden müssen.
Wie Schuld und Scham zusammenhängen - eine biblische Antwort
Wenn wir zur Bibel und ihrem Schuld-und-Scham-Vokabular kommen, drängt sich recht schnell die Frage auf, warum Jesus am Kreuz sterben musste? Ist es so wie Boppi sagt?
Was Christus am Kreuz getan hat, übersteigt das reine Schuldvergeben bei weitem – nur leben wir seit Jahrhunderten mit einer Schmalspurversion des Kreuzes.
Reicht es nicht, dass Christus uns von Schuld und Sünde befreit? Brauchen wir ihn auch als 'Entschämer' unserer Scham?
Nun lässt sich die Bibel ja nicht direkt unseren psychologischen Kategorien zuordnen. Sie spricht beispielsweise nicht von Minderwertigkeit oder Selbstachtung. Aber sie redet von Scham und Schande, Unehre oder Würde - alles Begriffe, die zum Thema aussagen.
Es ist spannend, dass Scham und Schande in der Bibel häufig als eine Folge von Sünde (also dem Übertreten von Gottes Geboten) beschrieben werden. Neben dem Vorfall im Paradies zum Beispiel hier:
So müssen wir uns in unsere Schande legen, und unsre Schmach muß uns bedecken. Denn wir haben gegen den Herrn, unsern Gott, gesündigt, wir und unsere Väter, von unsrer Jugend an bis heute, und wir haben der Stimme des Herrn, unseres Gottes nicht gehorcht. (Jeremia 3,25)
Oder hier: 'Mein Gott, ich schäme mich und scheue mich, meine Augen aufzuheben zu dir, mein Gott; denn unsere Missetat ist über unser Haupt gewachsen, und unsere Schuld ist groß bis an den Himmel.' (Esra 9,6) Dabei könnte man Scham als das subjektive Gefühl des Menschen bezeichnen, der seine Schuld gegenüber Gott erkennt. Schande würde dann eher vom (objektiven) Moment der Wahrheit, wenn Gott die Sünden seines Volkes aufdecken wird, sprechen: 'Sie werden mit Schande dastehen, weil sie solche Greuel getrieben haben; aber sie wollen sich nicht schämen und wissen nichts von Scham.' (Jer 6,15) Hier sehen wir sogar eine Situation, in der das Volk vor Gott in Schande dasteht, aber seine Verfehlungen nicht einsehen will und sich darum auch nicht schämt. Scham ist also keine automatische Reaktion auf Sünde. Sie entsteht, wenn man sich der eigenen Schuld bewusst wird.
Wir stellen fest: Scham in der Bibel ist nicht einfach ein 'menschlich neutrales' Gefühl der Minderwertigkeit und auch nicht in erster Linie abhängig davon, dass meine Gruppe mich negativ evaluiert. Scham entsteht dann, wenn man gegen Gott gesündigt hat (siehe auch Röm 6,20-21). Dieses 'gegen Gott' ist dabei ganz entscheidend. Der Mensch verliert seine Ehre und Würde, nicht zuerst vor dem Angesicht anderer Menschen oder seiner Gruppe, sondern vor Gott höchstpersönlich.
Eines der krassesten Beispiele, das diese vertikale Dynamik veranschaulicht, ist Davids Lapsus mit Bathsheba. Gerade hier hätte man doch erwartet, dass David primär darunter leidet, was seine Tat für schamvolle Konsequenzen für ihn als König mit sich bringt. Kann er seinen Untergebenen noch in die Augen schauen? Kann er so überhaupt noch König sein und regieren? Es kann sehr gut sein, dass David sich geschämt hat, als der Prophet Nathan ihm sein Vergehen ins Bewusstsein kitzeln durfte. Doch was David in Psalm 51 dann verarbeitungshalber zu diesem Vorfall dichtete, verblüfft ganz und gar: 'Gegen dich allein [Gott] habe ich gesündigt, ich habe getan, was böse ist in deinen Augen.' (Ps 51,6) Logisch, Davids Fehltritt schadete seinen Mitmenschen (Uria starb dabei!) - aber es war in erster Linie ein Vergehen gegen Gott.
Eine schamorientierte Kultur sagt gemäss dem Schulbuch: Nicht das Übertreten einer Norm ist das entscheidende Problem, sondern das Verletzen des Gruppenkodex. Die Folgen sind nicht Schuld vor dem Gesetz, sondern Scham und Schande. Scham, weil man den anderen nicht mehr in die Augen schauen kann und Schande, die man wegen seines Verhaltens auf sich und die ganze Gruppe lädt. Doch in der Bibel werden diese beiden Elemente gar nicht gegeneinander ausgespielt, wie Schirrmacher feststellt:
Das gemeinschaftsschädigende Verhalten ist in der Bibel gerade keine subjektive oder gefühlsmäßige Größe, sondern wird vom Bundesrecht vorgegeben. „Wenn ihr mich liebt, werdet ihr meine Gebote halten“. (S. 43)
Das göttliche Gebot der Nächstenliebe, 'bedeutet gerade die perfekte, komplementäre Verbindung von Scham- und Schuldorientierung.' Denn dieses Gebot 'zielt ebenso gegen die Schande wie gegen die Ungerechtigkeit. Es betont die Beziehung ebenso wie das Recht.'
Und warum ist Jesus jetzt gestorben?
Die Bibel beantwortet (für mich zumindest) diese Frage klar und eindeutig: 'Christus ist - in Übereinstimmung mit den Aussagen der Schrift – für unsere Sünden gestorben.' (1Kor 15,3) Warum? Unsere Sünde ist unser Problem. Sie macht es uns unmöglich, vor Gott zu kommen. Wir reden hier von einer vertikalen und 'objektiven' Wirklichkeit. Vor Gott stehen wir sowohl schuldig als auch unwürdig da. Schirrmacher macht deutlich:
Nirgends im Alten oder Neuen Testament geht es darum, Menschen von Schuld- oder Schamgefühlen zu befreien, sondern von wahrer – objektiv nachvollziehbarer – Schuld und Unehre. (S. 36)
Zuerst muss unsere Beziehung mit Gott ins Reine kommen, bevor wir darüber zu reden beginnen können, dass Jesus uns von unserem Minderwertigkeitsgefühl befreit und unsere verunsicherte Identität wieder gerade rückt. Es stimmt, wenn Gott uns unsere Sünden vergibt, brauchen wir uns nicht länger dafür zu schämen: 'An jenem Tag brauchst du dich nicht mehr zu schämen, wegen all deiner schändlichen Taten, die du gegen mich verübt hast.' (Zefanja 3,11) Wenn Scham eine Folge unserer Sünde war, so ist der göttliche Zuspruch, dass wir nun als seine Kinder angenommen und damit vor Gott rehabilitiert sind die Konsequenz davon, dass Jesus unsere Schuld am Kreuz auf sich lud. Markus Till hat es so zusammengefasst:
Unsere Evangeliumsbotschaft bleibt unvollständig und oberflächlich, wenn wir verschweigen, woher unsere Scham letztendlich kommt. Ihre tiefste Ursache liegt in unserer Verstrickung in Sünde, in unserer Ignoranz gegenüber unserem Schöpfer, seiner Liebe, seiner Gerechtigkeit und seinen Geboten für ein gelingendes Leben. Die Wiederherstellung unserer Ehre und Würde gelingt nur über das Kreuz, über die Vergebung unserer Schuld und die Erneuerung unseres Lebens durch den Heiligen Geist.
Das Problem der Schubladen
Wenn ich bei George über das 'Schamevangelium' lese, kommt meine inklusive Art an ihre Grenzen. Es scheint mir, dass George seine Sortiermaschine so über das biblische Material fahren lässt, dass Scham links und Schuld rechts herunterfällt. Alles so schön säuberlich getrennt, haben wir rechts einen Christus, der für unsere Sünden stirbt - das Opferlamm Gottes, das alle Konsequenzen unserer Schuld auf sich lud. Und links haben wir den Christus, der mit den Ausgestossenen speist und sie rehabilitiert, indem er ihnen Würde und Ehre schenkt. Rechts starb Christus wegen unserer Sünde, die uns von Gott trennt. Links aber starb Jesus, 'weil er eine Bedrohung für die menschliche Ehre der religiösen Führer im damaligen Israel' war. (Seite 44) Rechts demonstrierte der Tod Jesu, dass Gott sowohl gerecht als auch gnädig ist. Links stellte Christus die Ehre seines Vaters wieder her, der durch den Ungehorsam Adams einen 'Gesichtsverlust' erlitten hatte.
Neben all den theologischen Verzwickungen, die sich hier auftun [1], stehen wir vor dem Problem, dass George's Sortiermaschine scheidet, was Gott einst zusammengefügt hat. Ich kann das Anliegen schon nachvollziehen, das Evangelium so zu präsentieren, dass es zur jeweiligen (Schuld oder Scham-) Kultur passt. Doch fürchte ich, dass wir dabei nur bei 'Schmalspurversionen' oder sogar 'Bin-ich-überhaupt-noch-ein-Evangelium?-Versionen' des Evangeliums landen könnten.
Sprechen wir in einer Schamkultur noch von Sünde gegen Gott, oder wird Sünde als etwas gesehen, dass wir vor allem anderen Menschen oder uns selbst antun? Und wenn wir Moral als etwas sehen, das 'durch den Druck von aussen' aufrecht erhalten wird, wobei die Hauptfrage stets 'was werden die anderen denken?' lautet (siehe George S. 25), dürfen wir dann auch nachfragen wie Gott über uns denkt? Thomas Schirrmacher bringt es auf den Punkt:
Vor wem schämen ich mich letztlich, vor Gott oder den Menschen? Und wer kann in letzter Konsequenz meine Ehre wiederherstellen, Gott oder Menschen? (Seite 41)
Zum Schluss ein Plädoyer für Ganzheitlichkeit
Ron Kubsch schreibt in seinem Blog:
Auf den Kanzeln und christlichen Medien-Kanälen wimmelt es von „Du bist wertvoll“- und „Du bist so angekommen, wie Du bist“-Botschaften. Trotzdem stecken die Kirchen in einer geistlichen Krise. Es scheint so, also ob die Versicherung, „du bis ok und gehörst dazu“, die Sehnsucht der Menschen nicht stillen kann.
Das menschliche Dilemma besteht darin, dass wir vor Gott nicht bestehen können. Wir alle sind Sünder (wir machen Fehler) und sündhaft bis in die Knochen (wir sind ein Fehler). Wir alle wollen uns rechtfertigen, indem wir unser zu-kurz-geraten-Sein durch unsere Performance aufholen (lies dazu meinen letzten Beitrag). Wir alle sind darum bemüht, unsere Fehler und Schwächen wett zu machen und unsere Blösse zuzudecken. Schuld und Scham sind zwei Seiten derselben Medaille. [2]
Die Erlösung aus diesem menschlichen Dilemma kommt nicht durch den horizontalen Zuspruch der Massen ('Du bist ok!') oder der genug ernst gemeinten Selbstversicherung ('Ich bin wertvoll!'). Unsere Erlösung kommt indem wir von uns wegschauen - unseren Sünden und Fehlern, unserer Blösse - auf den, der uns mit seinen 'Kleidern des Heils und einem Mantel der Gerechtigkeit' einkleidet (Jes 61,10).
Und ganz zum Schluss, ein Nachwort:
Das Schöne an der digitalen Schreibwelt ist? Man kann nacheditieren, was ich hier jetzt gleich tun will. Was ist mit Fremdbeschämung? Was ist, wenn wir immer wieder (und zu unrecht) gehört haben: du bist falsch, du bist nicht wertvoll? Es nützt wenig, wenn wir die beschämte Person darauf als Sünderin in die Pfanne hauen. Im Evangelium liegt ja der wunderbare Zuspruch, dass Jesus Christus selbst in absolut unverdienter, ungerechter Schande am Kreuz hing (Heb 12,2). Er wurde beschämt - er, der es am allerwenigsten von uns verdient hätte. So weit kann er mit uns mitfühlen! So tief geht seine Liebe, dass er auch diese Schande auf sich nahm. Und so verbindet er in seinem Mitgefühl und in seiner gnädigen Annahme unsere Wunden der Scham, die uns ungerechterweise von anderen Menschen zugefügt wurden.
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[1] Will George wirklich zu einer anselmischen Kreuzestheologie zurück, bei der das Hauptproblem ist, dass Gottes Ruf durch den Menschen in Unehre geraten ist und nun wiederhergestellt werden muss? Sorry, wenn ich euch jetzt abgehängt habe. Aber George nimmt tatsächlich Bezug auf den mittelalterlichen Theologen Anselm von Canterbury (auf Seite 56). (Zu Anselm und dem Kreuz siehe diesen Beitrag hier.)
[2] Das Bild, das manchmal von der westlichen Theologie gezeichnet wird, gleicht einer Karikatur: Es geht nur um Schuld und Unschuld, Gesetz und Gesetzesübertretung - und nicht um Beziehung, Annahme, Identitätszuspruch. Diese Annahme ist weit gefehlt, wie jeder, der nur kursiv in der westlichen Theologiegeschichte gelesen hat, feststellt.
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